Das große Disruptionsdefizit: Warum Deutschland ein Problem hat

Unternehmen wir gedanklich eine Zeitreise in das Jahr 1880: wirtschaftshistorisch eine ungemein spannende Epoche. Hier begann eine Phase, in der Innovationen die Wirtschaftswelt so stark veränderten wie vermutlich nie zuvor. Ständig gab es neue Durchbrüche. Die ersten Höhenflüge veränderten Stück für Stück die Welt. Mit der Jahrhundertwende bekam eine weitere Erfindung einen disruptiven Charakter: das Automobil. Aber sind die aktuellen disruptiven Aussichten Deutschlands genau so rosig?

Deutschlands disruptive Innovationen: von glorreich zu pleite

Deutschland hatte in dieser Phase bezüglich disruptiver Impulse in etwa die Bedeutung, die die USA heute einnehmen. Nicht ohne Grund war Deutsch in vielen naturwissenschaftlichen Fächern weltweit eine fast unverzichtbare Sprache, und an vielen Universitäten außerhalb Deutschlands wurde auf Deutsch gelehrt und publiziert. Für einen sehr großen Teil unserer heutigen industriellen Substanz sowie unserer Wohlfahrt wurde damals der Grundstein gelegt.

Wenn heute noch Millionen von Menschen in Deutschland von der Automobil- oder Chemieindustrie leben, dann ist das immer noch die direkte Folge von wirtschaftlichen Prozessen und Fähigkeiten, die ihren Ursprung vor über 100 Jahren haben.

Das Gleiche gilt für die nach wie vor sehr leistungsfähige deutsche Elektrotechnik und den Maschinenbau. Die wirtschaftliche Kraft dieser Branchen ermöglicht es uns bis heute, den stolzen Titel des Exportweltmeisters zu tragen, hohe Löhne zu zahlen und einen Sozialstaat zu finanzieren, der wie wenig andere Staaten in der Welt Umverteilung betreibt. Ist damit alles gut? Aus unserer Sicht leider nicht. Denn die Sache hat einen Haken. Seit Jahrzehnten geht die Zahl der als disruptiv einzuordnenden Innovation in Deutschland zurück. Wenn man sehr strenge Kriterien anlegt, könnte man sogar behaupten, dass von Deutschland seit sehr langer Zeit gar keine relevante Disruption mehr ausgegangen ist.

Woran Deutschlands disruptiver Charakter scheitert

Lange konnten wir die damit einhergehenden Probleme allerdings gut kaschieren, da die deutsche Wirtschaft in einer anderen Disziplin fast unangefochten gut war: Der evolutionären Verbesserung. Statt Produkte oder Prozesse von Grund auf neu zu denken, verbessern wir in Deutschland seit Jahrzehnten unaufhörlich bestehende Produkte. Motoren bekommen immer ein wenig mehr PS, ohne mehr Abgase auszustoßen und Gasturbinen und Generatoren produzieren immer ein wenig mehr Strom, ohne mehr Gas zu verbrauchen. Mit diesen ewigen Verbesserungen und der Fokussierung auf die Perfektion im Detail haben wir die Konkurrenten auf der ganzen Welt nicht selten in den Wahnsinn getrieben.

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Inzwischen ist aber langsam der Punkt erreicht, an dem sich weitere evolutionäre Verbesserungen nur noch mit hohem Aufwand und mit immer geringerem Effekt realisieren lassen. Viele Produkte sind so ausgereizt, dass weitere Verbesserungen zunehmend an physikalische und chemische Grenzen stoßen.

Es ist daher an der Zeit, disruptiv zu denken, ganz Neues zu wagen und öfter mal wieder bei Null anzufangen.

Leider gibt es dafür in Deutschland kaum die notwendige Kultur. Wir bräuchten wieder richtige „Haudegen“ (oder „Haudeginnen“), so wie sie einst Siemens, AEG, Daimler oder Junkers in ihrer Frühphase prägten. So wie heute ein Elon Musk, der sich nicht um etablierte Prozesse und Verfahren schert und den Mut hat, einfach alles neu zu denken. Aber genau daran scheint es zu hapern. Warum wir das behaupten können? Weil unsere Analysen nahelegen, dass Deutschland kaum in den Branchen vertreten ist, die einen positiven disruptiven Charakter haben. Und besonders stark in den Branchen vertreten ist, die unter disruptiven Prozessen leiden.

Das ist keine oberflächlich getroffene Aussage, sondern basiert auf einer Auswertung von etwa fünf Mio. Datenpunkten. Aufmerksame Leser dieser Publikation können sich in diesem Zusammenhang vielleicht an die Ausgabe vom 16.1.2020 erinnern – dort haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie disruptive Unternehmen identifiziert werden können. Die Antwort lautete – sehr kurz zusammengefasst – wie folgt:

Wenn eine positive Disruption beginnt visibel zu werden, zeigt sich dies in typischen Mustern des Verlaufes der Analystenschätzungen von Bilanzkennzahlen.

Etwas vereinfacht gesagt hinterlässt eine realwirtschaftliche Disruption auch eine Disruption (also einen Strukturbruch) in den Unternehmensdaten. Und genau nach diesem Strukturbruch suchen unsere Algorithmen. Der Charme dieser Vorgehensweise liegt nun darin, dass diese Daten nicht nur auf Unternehmensebene wertvolle Aussagen zulassen, sondern auch auf Branchenebene hochaggregiert werden können. Um eine besonders breite Datenbasis zu haben, haben wir die größten 5000 börsennotierten Unternehmen einem Disruptionstest unterzogen und darauf aufbauend ein Disruptionsranking auf Branchenebene erstellt.

Ein ernsthafter Weckruf: Deutschlands disruptives Potential im Keller

Das Ergebnis ist vergleichsweise eindeutig. Auf den ersten Plätzen befinden sich Branchen, in denen deutsche Unternehmen wenig vertreten sind, während ausgerechnet die letzten beiden Platze (Chemie und Autos) von deutschen Unternehmen dominiert werden. Wenn man die durchaus berechtigte Basishypothese aufstellt, dass Branchen mit positivem disruptiven Potenzial hohe Wachstumsraten aufweisen und Branchen mit negativen disruptiven Tendenzen eher schrumpfen und an Bedeutung verlieren, hat Deutschland ein ganz ernsthaftes Problem. Natürlich könnte man die These aufstellen, dass eine Analyse, die sich auf 20 Branchen beschränkt und damit eine wenig granulare Einteilung vornimmt, möglicherweise ein wenig holzschnittartig ist.

Aus diesem Grund haben wir die gleiche Analyse auch für eine sehr granulare Industrieklassifikation vorgenommen (die Ergebnisse finden sich auf der nächsten Seite). Leider lassen auch diese Ergebnisse, die 170 verschiedene Branchen und Industriesektoren auswerten, keinen anderen Schluss zu. Wie man es auch dreht und wendet – Deutschland ist kaum dort vertreten, wo sich positives disruptives Potenzial entfaltet. Und wir sind überdurchschnittlich stark dort vertreten, wo Probleme vor der Tür stehen.

So wundert es auch nicht, dass Deutschland auf dieser Datenbasis in einem Länderränking schlecht abschneidet und nur im Mittelfeld landet. Teilweise deutlich besser stehen beispielsweise die USA, Großbritannien, die Schweiz, China, Schweden, Indien, Frankreich oder Taiwan da. Wir sehen dies als ernsthaften Weckruf. Wenn sich hier nichts Substanzielles ändert, kommen sehr harte Jahre auf die deutsche Volkswirtschaft zu.

Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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