Coronavirus: Die Krise im Detail – und mögliche Folgen für Deutschland

Wir haben uns die aktuellen Wachstumsraten der Infektionen genauer angesehen. Warum wir glauben, das selbst das deutsche Gesundheitswesen mit seiner sehr hohen Anzahl an Intensivbetten und seiner noch geringen Fallzahl an seine Grenzen stoßen wird.

Tatsächlich hat sich die Lage in den letzten 48 Stunden nochmals verschärft. Viele Länder haben den Grenzverkehr massiv eingeschränkt und teilweise Notstandsmaßnahmen in Kraft gesetzt, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und Zeit zu gewinnen. Die EZB steht jetzt unter Zugzwang, ihre ohnehin schon geplanten expansiven Maßnahmen weiter auszuweiten. Damit erreicht das aktuelle Geschehen in vielerlei Hinsicht eine Dynamik, die wir zuletzt in der Finanzkrise beobachten konnten.

Die US-Notenbank hat die daraus resultierende wirtschaftliche Dramatik erkannt und gestern Abend den Leitzins um 100 Basispunkte auf annähernd Null gesenkt. Wenn man bedenkt, dass die US-Notenbank erst vor weniger als zwei Wochen die Leitzinsen um 50 Basispunkte gesenkt hatte, wird die Dramatik noch deutlicher. Zudem wurden zusammen mit anderen Notenbanken weitere expansiv wirkende geldpolitische Maßnahmen beschlossen.

Covid-19: Die aktuelle Krise

Die aktuelle Krise ist in erster Linie eine epidemiologische Krise. Möchte man verstehen, welche Belastungen in den kommenden Wochen und Monaten auf Länder zukommen, muss man sich zunächst mit den Eigenschaften solcher Krisen vertraut machen.

Ansteckungsbedingte Krankheitsverläufe weisen oftmals ein exponentielles Wachstum auf. Diese Art von Wachstum zeichnet sich dadurch aus, dass erst ein schleichender Prozess zu beobachten ist, der sich dann innerhalb kurzer Zeit extrem dynamisch entwickelt.

Entwicklung der Krise: Kaum vorstellbar

Es ist seit vielen Jahren bekannt, dass es Menschen schwer fällt, die Konsequenzen eines exponentielles Wachstums intuitiv zu verstehen, da man im alltäglichen Leben nur sehr selten oder gar nicht mit exponentiellen Prozessen konfrontiert wird. Das erklärt auch, warum der Aktienmarkt sehr lange sehr entspannt mit der Corona-Krise umgegangen ist. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass aus zunächst sehr wenigen Infizierten und noch weniger Toten eine Krise mit globalem Ausmaß werden konnte.

Inzwischen scheint in einigen Ländern allerdings das Schlimmste vorbei zu sein. China gelang es mit teilweise drakonischen Maßnahmen, die Infektionskette wirkungsvoll zu unterbrechen. Die Maßnahmen waren allerdings oftmals so drastisch, dass sie mit dieser Eingriffsintensität in einer westlichen Demokratie unvorstellbar wären.

Ansteckungsprozess: ein Infizierter steckt etwa zwei weitere Personen an

Aber auch Südkorea ist es mit etwas weniger drakonischen Maßnahmen gelungen, die Lage zu stabilisieren. Für sehr viele andere Länder gilt aber nach wie vor die Einschätzung, dass sich sowohl der Zahl der Infizierten als auch die Zahl der Toten exponentiell entwickelt. In vielen Ländern steckt ein Infizierter derzeit etwa zwei weitere Personen an (man hier spricht von einer Basisreproduktionszahl von 2), und für diesen Ansteckungsprozess werden beim Corona-Virus in etwa fünf Tage gebraucht (hier spricht man von einem seriellen Intervall von fünf Tagen).

Vergleich: Zahlen der Corona-Fälle in Deutschland und weltweit

Dieser Prozess ist beispielsweise in Frankreich, Spanien, Großbritannien, den USA, Iran und Deutschland und natürlich auch in Italien in vollem Gang. Dabei fällt auf, dass die Kurve der Infizierten der Kurve der Toten immer ein wenig „vorauseilt“.

Vergleicht man die Verläufe der Kurven auf der Zeitachse, fällt allerdings auf, dass diese Kurven nicht „übereinander“ liegen, sondern eher gestaffelt. Das ist auch logisch, denn der Virus ist nicht in jeder Region gleichzeitig ausgebrochen, sondern zunächst in China, dann in Südkorea und Japan und dem Iran, bevor dann die Krise in Europa und vor allem in Italien ankam.

Es existieren viele Spekulationen darüber, warum Italien der Herd für die Infektionen in Europa werden konnte. Eine mögliche Erklärung ist in der hohen Korrelation zwischen italienischen Gebieten mit hoher Infektionsrate und den Gebieten mit einem hohen Anteil (illegaler) chinesischer Arbeiter in Modefabriken zu sehen, die dort unter teilweise unmenschlichen Umständen „just in time“ Modeartikel für Europa produzieren.

Aber wie sieht diese Staffelung der Infektionskurven im Detail aus?

Startet man die Betrachtung Ende Februar und verwendet standardisierte Infektionskurven, die alle bei dem Wert eins enden, so fällt auf, das China nahezu keinen Anstieg mehr erlebt, die Kurve in Südkorea abflacht und Japan sowie der Iran auch schon vergleichsweise früh von der Entwicklung betroffen waren. Die Fläche unterhalb der jeweiligen Kurven kann genommen werden, um eine Maßzahl zu bestimmen, wie weit Länder mit der Infektion schon vorangeschritten sind. In dieser Logik wären Spanien, die USA und Frankreich die Länder, denen noch besonders viel bevorsteht, und auch Deutschland und Großbritannien befinden sich eher noch am Anfang dieser Entwicklung.

Da die Kurven einem gestaffelten Verlauf  folgen, können nun die Länder, die etwas später betroffen waren, von den zuvor betroffenen Ländern lernen.

Die Haupterkenntnis ist dabei sehr einfach und lässt sich auf die folgende Formel bringen: Viel hilft viel. Je länger man wartet und je zögerlicher interveniert wird, umso schlimmer kommt es in der Zeit danach. Aber warum sind Länder überhaupt bereit, drakonische Maßnahmen zu ergreifen und scheinbar in komplette Panik zu verfallen, wenn die allermeisten infizierten Menschen nur geringe oder gar keine Symptome entwickeln und in einem gut funktionierenden Gesundheitssystem wie Deutschland bisher nur vergleichsweise wenig Tote zu beklagen sind?

Warum Menschen – trotz eines funktionierenden Gesundheitssystems wie Deutschland – leicht in Panik verfallen können

Die Antwort ist relativ einfach und stützt sich auf Zahlen, die jetzt weitgehend gesichert aus China und Italien vorliegen: So scheint bei Berücksichtigung der Dunkelziffer der nicht erfassten und nicht getesteten Corona-Kranken die Sterberate bei etwa einem Prozent zu liegen, wenn eine hochwertige intensivmedizinische Betreuung möglich ist. Bricht diese intensivmedizinische Betreuung zusammen, steigt die Sterberate sprunghaft an und kann dann leicht bei dem 30fachen Wert (!!) der Sterberate einer Grippe liegen.

So ist es wenig überraschend, dass Regierungen alles daran setzen müssen: den Infektionsverlauf zeitlich so zu strecken, um eine intensivmedizinische Betreuung der Schwerkranken Patienten zu ermöglichen, und einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu vermeiden, so wie es in Teilen Chinas beobachtet werden konnte und in Italien beobachtet werden kann.

Kann die Situation in den westlichen Demokratien im Gesundheitswesen beherrschbar gehalten werden?

Oder ist mit einem zeitweiligen Versagen auf breiter Front zu rechnen? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst abgeschätzt werden, wie viele Infizierte es tatsächlich in den verschiedenen Ländern gibt. Die veröffentlichten Fallzahlen sind dafür kein guter Ratgeber, da in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich intensiv und effektiv getestet wird. Das wird deutlich, wenn man beispielsweise die scheinbare Sterblichkeit dadurch berechnet, dass man die Todesfälle durch die Zahl der positiv getesteten Corona-Infizierten teilt.

Die Grafiken zeigt eine extreme Spreizung in der scheinbaren Sterblichkeit. Diese wird noch leichter zu interpretieren, wenn der Wert für Deutschland auf eins gesetzt wird. Dann liegt Italien relativ zu Deutschland bei einem Faktor von 24 in der Sterblichkeit.

Das liegt zum einen kleinen Teil an einem kollabierenden Gesundheitssystem, aber zu einem viel größeren Teil an der mangelnden Erfassung der Infizierten.

Mit anderen Worten: Es gibt in Italien (und auch im Iran und in anderen Ländern) dramatisch (!) viel mehr Infizierte als offiziell bekannt ist.

Doch wie lässt sich diese Zahl abschätzen?

Wir haben dazu zwei Methoden entwickelt, die zu ähnlichen Ergebnisse kommen.

  1. Im ersten Fall unterstellen wir, dass die Dunkelziffer der nicht erkannten Corona-Fälle in Deutschland bei dem Faktor drei liegt. Das bedeutet, dass auf einen erkannten Erkrankten drei weitere noch nicht positiv getestete Patienten kommen. Auf Basis der Zahlen vom 14.3. würde es dann etwa 12.000 Infizierte in Deutschland geben.
    Wenn man nun unterstellt, dass die Sterblichkeit etwa überall gleich hoch ist (bis auf Italien und Iran, dort ist sie derzeit höher), kann man aus den vermutlichen Infektionszahlen anhand des Faktors aus der obigen Grafik auf die vermutlich tatsächlich infizierten Personen schließen. Wem diese Methode zu unsicher erscheint, kann ein anderes Gedankenexperiment machen.
  2. So können wir davon ausgehen, dass die Zahl der Toten vergleichsweise gut erfasst wird. Die Dauer vom Krankheitsbeginn bis zur intensivmedizinischen Betreuung liegt bei schweren Verläufen bei etwa 12 Tagen, bei extrem schweren Verläufen tritt im Durchschnitt drei Tage später der Tod ein. Das bedeutet, dass in diesen 15 Tagen drei Zyklen eines sog. seriellen Intervalls durchlaufen werden. Ein serielles Intervall ist die Zeit, in der ein Infizierter weitere Personen ansteckt, die Zahl der Personen hängt von der Infektiosität und den staatlichen Maßnahmen ab und liegt bei etwa 2 (oder sogar mehr, wir unterstellen aber einen Wert von 2).
    Damit kann man mit relativ einfacher Mathematik und der Annahme einer Sterberate von 1% bestimmen, wie viele Menschen vor etwa 15 Tagen vom Virus infiziert waren und wie viele Menschen jetzt betroffen sind.

Beide Methoden führen zu recht ähnlichen Ergebnissen, was uns darin bestätigt, dass diese Berechnungen nicht signifikant falsch sein können.

Eine große Unsicherheit besteht vor allem bei Italien und dem Iran, da hier Annahmen über die Sterblichkeit angesichts eines schon jetzt überforderten Gesundheitssystems schwer zu treffen sind.

Projektionen über die Belastung des Gesundheitssystems: Mit diesen geschätzten aktuellen Fallzahlen ist das möglich

Dazu haben wir die aktuellen Wachstumsraten der Infektionen zunächst fortgeschrieben, für die kommenden Wochen aber eine Abflachung der Wachstumsrate auf 30% der aktuellen Wachstumsrate unterstellt. Damit gehen wir in unseren Simulationen davon aus, dass die staatlichen Notmaßnahmen nun beginnen zu greifen. Für Spanien haben wir sogar einen noch etwas stärkeren Rückgang unterstellt, da dort die Maßnahmen seit dem Wochenende besonders drastisch zu sein scheinen.

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Wenn man dann optimistisch unterstellt, dass nur etwa ein Prozent der neuen Infektionen perspektivisch intensivmedizinisch betreut werden muss, und diese resultierenden Fallzahlen in Relation zu den vorhandenen Betten stellt, zeigt sich schnell, dass vor allem Spanien, Frankreich, Großbritannien und die USA in massive Probleme laufen werden, aber selbst das deutsche Gesundheitswesen mit seiner sehr hohen Anzahl an Intensivbetten und seiner noch geringen Fallzahl an seine Grenzen stoßen wird.

An dieser Stelle wollen wir aber eines ganz deutlich machen: Wir sind Volkswirte und keine Virologen!

Doch haben wir uns mit der Thematik ausreichend gut auseinandergesetzt, so dass keine extrem groben Fehler in den Berechnungen enthalten sein sollten. Trotzdem liegt es in der Natur der Sache, dass solche Berechnungen mit hohen Fehlerquoten einhergehen. Daher sind auch weniger die absoluten Werte der obigen Grafik aussagekräftig, sondern vor allem die Tendenzaussage. Und die könnte klarer nicht sein.

Selbst bei Berücksichtigung einer erheblichen Fehlertoleranz werden viele westliche Gesundheitssysteme an ihre Grenzen kommen, manche könnten zeitweise kollabieren.

Man kann davon ausgehen, dass ähnliche Berechnungen derzeit überall in der Welt angestellt werden. Das ist auch der Grund, warum nun doch in recht schneller Folge in immer mehr Ländern weitreichende Notfallmaßnahmen in Gang gesetzt werden. Denn der einzige Weg, einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, besteht jetzt darin, die Infektionskurve deutlich zu verflachen und auf der Zeitachse zu strecken. Dafür reichen zwei Wochen extremer Maßnahmen nicht im Ansatz aus.

Die Zeit, um die es hier geht, liegt bei einigen Monaten.

Auch dazu ein schnelles Gedankenexperiment.

  1. In Deutschland liegt die Bevölkerung bei 82 Mio. Menschen.
  2. Angenommen, es stecken sich 65% der Menschen mit dem Virus an, so käme man auf 53 Mio. Infizierte im Verlauf dieser Pandemie in Deutschland.
  3. Nehmen wir weiter sehr (!) optimistisch an, dass sich aufgrund medizinischer Fortschritte in der Behandlung der Anteil der Personen, die intensivmedizinisch betreut werden muss, auf 0,5% senken ließe. Das wären noch 265.000 Fälle.
  4. Nehmen wir weiter an, dass pro Woche 15.000 Infizierte intensivmedizinisch versorgt werden können und danach das Gröbste überstanden haben. Dann würde das Gesundheitssystem in Deutschland nur dann nicht zusammenbrechen, wenn man den Ansteckungspfad über 18 Wochen massiv dämpfen und strecken könnte. In anderen Ländern läge der Wert noch viel höher.

Wer hier davon ausgeht, dass in zwei oder drei Wochen die Normalität einkehrt, hat nicht ansatzweise den Ernst der Lage erkannt.

Was bedeutet das nun für die Anlagepolitik?

Wir haben in den letzten Wochen kontinuierlich die Aktienquote reduziert und werden dies zunächst auch weiter tun. Dabei haben wir aber auch die Anleihenmärkte im Blick, die trotz aller Interventionen der Notenbanken extreme Anzeichen von Stress zeigen. Da die Kursauschläge in jede Richtung im Moment extrem sind, halten wir aber Nichts von radikalen Veränderungen in der Allokationsstruktur.

Die Erfahrung zeigt, dass sich Märkte stabilisieren, bevor für alle ersichtlich ein Silberstreif am Horizont zu sehen ist. Zudem ist nicht auszuschließen, dass in den kommenden Wochen erste Medikamente und Impfstoffe in klinischen Studien getestet werden. All das spricht dafür, jetzt nicht komplett die Nerven zu verlieren. Aber es spricht auch dafür, zunächst weiterhin vorsichtig zu bleiben. Übergroßer Mut wird in den kommenden Wochen vermutlich nicht belohnt werden, dafür ist die Lage zu kritisch.

Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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