Ausblick 2022 (II): Zinswende im Schneckentempo

Im zweiten Teil unseres Jahresausblicks 2022 geht es heute um die Themen Geldpolitik, Zinsen, Anleihenmärkte und US-Dollar. In der nächsten Woche, in Teil drei, erläutern wir Ihnen unsere Einschätzungen zu den Aktienmärkten.

Und es bewegt sich doch, wenn auch nur ganz langsam: das internationale Zinsniveau. Angesichts des starken Inflationsanstiegs und der sich erholenden Wirtschaft haben die ersten Notenbanken in diesem Jahr begonnen, ihre Leitzinsen zu erhöhen. Allerdings bleiben die meisten Währungshüter bei einer sehr vorsichtigen Vorgehensweise, zu groß ist die Angst davor, den beginnenden Aufschwung zu früh abzuwürgen. Wie sich die Zinsen im kommenden Jahr entwickeln, was für die Anleihenmärkte zu erwarten ist, und welche Richtung der Euro gegenüber dem US-Dollar einschlagen wird, lesen Sie heute im zweiten Teil unseres Jahresausblicks. Besuchen Sie auch gerne unseren YouTube-Kanal, auf der Sie unsere Jahresausblicke in Bild und Ton finden.


In der vergangenen Woche haben wir den ersten Teil unseres Jahresausblicks in Konjunktur & Strategie veröffentlicht, auf unserem YouTube-Kanal finden Sie nun auch das dazugehörende Video. In gut 10 Minuten erfahren Sie kompakt und auf den Punkt gebracht, wieso wir die wirtschaftlichen Aussichten positiv einschätzen und warum wir glauben, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung im nächsten Jahr fortsetzt. Wie beurteilen wir die Aussichten für die deutsche Wirtschaft und für die Eurozone? Bleiben die USA der Wachstumsmotor der Weltwirtschaft? Wie wird sich China schlagen, dessen wirtschaftliche Aussichten sich zuletzt etwas eingetrübt haben? Und was passiert mit der Inflation, die in diesem Jahr alle überrascht hat? Wissenswertes zum Thema Wirtschaft sowie Einschätzungen zur Entwicklung der Kapitalmärkte liefern Ihnen meine Kollegen und ich in unserer Videoserie „Jahresausblick 2022“, in den kommenden Tagen laden wir weitere Folgen hoch. Viel Spaß dabei.

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2020: Zinssenkungen und expansive Geldpolitik

Das Jahr 2020 stand ganz im Zeichen von Zinssenkungen und einer weltweit deutlich expansiveren Geldpolitik. Von den 50 Zentralbanken, die wir regelmäßig beobachten, senkten im Laufe des vergangenen Jahres fast alle ihren Leitzins.

2021: Erhöhung des Leitzins

In diesem Jahr war dagegen das Gegenteil zu beobachten, fast die Hälfte der Notenbanken hat 2021 den Leitzins wieder erhöht. Hierzu gehören in erster Linie Zentralbanken aus den Schwellenländern, allen voran die Notenbanken Brasiliens und Russlands. Aber auch in den Industrieländern gab es die ersten Zinserhöhungen, beispielsweise in Norwegen, Neuseeland oder in Südkorea. Somit lässt sich konstatieren, dass die Zinswende bereits begonnen hat, auch wenn man sie noch nicht so richtig wahrnimmt.

Ausblick 2022 Geldpolitik

Zwar sorgen neue Coronavirus-Varianten für Unsicherheit und erschweren die Prognose des weiteren Konjunktur- und Inflationsverlaufs, doch wird sich die geldpolitische Unterstützung der Wirtschaft 2022 unserer Ansicht nach weiter verringern. Allerdings bleibt das Umfeld für die internationale Geldpolitik kompliziert.

Sollten beispielsweise neue wirtschaftliche Beschränkungen notwendig werden (wovon wir derzeit nicht ausgehen), könnten diese die erwartete wirtschaftliche Erholung empfindlich stören, was für sich genommen für die Beibehaltung einer sehr expansiven Geldpolitik spräche. Gleichzeitig wäre aber zu befürchten, dass die Störung der internationalen Lieferketten länger anhält und die Verfügbarkeit wichtiger Vorleistungsgüter weiter auf sich warten lässt – mit möglichen negativen Auswirkungen auf die Preisentwicklung und dem daraus resultierenden Risiko anhaltend hoher Inflationsraten.

In diesem Fall müsste die Geldpolitik eigentlich restriktiver werden. Um in diesem Spannungsfeld möglichst wenig Fehler zu machen, werden die Notenbanken in der nächsten Zeit nur sehr vorsichtige Anpassungen bei den Leitzinsen vornehmen. Vor allem in den Industrieländern bewegt sich die Geldpolitik 2022 nur im Schneckentempo.

Der Fokus wird sich dabei vor allem auf die US Federal Reserve richten. Positive konjunkturelle Rahmenbedingungen, eine weitere Erholung des Arbeitsmarktes sowie ein deutlicher Anstieg der Inflation und der Inflationserwartungen bilden die Basis für die Zurückführung der sehr expansiven Geldpolitik der US-Notenbank.

Seit November werden die monatlichen Anleihenkäufe von ursprünglich 120 Milliarden US-Dollar um jeweils 15 Milliarden US-Dollar reduziert („Tapering“). Auf der nächsten Sitzung am 14. und 15. Dezember 2021 wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Beschleunigung, möglicherweise sogar eine Verdoppelung, des monatlichen Taperings beschlossen, sodass das Kaufprogramm spätestens im Laufe des zweiten Quartals 2022 beendet sein wird.

Kommt jetzt die restriktivere Geldpolitik?

Eine restriktivere Geldpolitik bedeutet das aber zunächst noch nicht, da die US-Notenbank weiterhin alle Fälligkeiten der Anleihen aus ihrem Bestand wieder anlegt, sodass die Bilanzsumme der Notenbank unverändert bleibt. Allerdings verschafft sich die Fed mit dem schnelleren Ausstieg aus den Anleihekäufen mehr Flexibilität, um bei anhaltend hohen Inflationsraten schon in den Sommermonaten eine erste Zinserhöhung zu beschließen.

Sollte es bis dahin nicht zu einem konjunkturellen Dämpfer kommen, könnte angesichts einer dann immer noch erwarteten Inflationsrate von rund vier Prozent bzw. einer Kerninflationsrate von drei Prozent im Juni 2022 eine erste Zinserhöhung von 25 Basispunkten beschlossen werden. Eine weitere Zinserhöhung könnte dann im September folgen.

Erst für das vierte Quartal rechnen wir damit, dass sich die Inflationsrate wieder der Zwei-Prozent-Marke nähert. Von daher halten wir die aus den Fed-Funds-Futures abzuleitenden Zinserhöhungserwartungen – erster Schritt im Mai, zweiter Schritt im September, dritter Schritt im Dezember – für übertrieben.

Wie könnten sich die Kapitalmarktrenditen entwickeln?

Da somit für das kommende Jahr bereits eine deutlichere geldpolitische Wende erwartet wird, gehen wir davon aus, dass sich die Rendite für 10-jährige US-Treasuries nur sehr moderat erhöhen wird. Für das Jahresende prognostizieren wir einen Renditeanstieg auf 2,0 Prozent, wobei wir eine Bandbreite von 1,75 bis 2,25 Prozent für möglich halten. Größter Risikofaktor bei dieser Prognose ist die Inflationsentwicklung. Sollte die Inflation im Jahresverlauf nicht wie von uns erwartet spürbar sinken, könnte die US-Notenbank gezwungen sein, früher und deutlicher zu reagieren – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Kapitalmarktrenditen.

Für die Eurozone stellt sich das Bild dagegen anders dar. In den letzten Wochen haben EZB-Präsidentin Christine Lagarde und die meisten ihrer Kollegen immer wieder darauf hingewiesen, dass die sehr expansive Geldpolitik noch über einen längeren Zeitraum Bestand haben wird. Damit traten sie Marktspekulationen, die Zentralbank könnte die Leitzinsen schon 2022 erhöhen, entgegen.

Allerdings zeigt sich bei den Meinungen der EZB-Räte ein gewisses „Nord-Süd-Gefälle“, wobei die Mitglieder aus den südlichen Ländern jedoch die Mehrheit haben. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es sich nicht lohnt, sich gegen die Notenbanken zu stellen („Don’t fight the Fed“), daher gehen wir davon, dass der EZB-Rat den Ankündigungen auch Taten folgen lassen wird.

Das Pandemic Emergency Purchase Programm PEPP wird zwar wie erwartet im März 2022 auslaufen, aber über eine Veränderung des kleineren Asset Purchase Programme APP in ein APP 2.0 wird die Europäische Zentralbank auch weiterhin am Kapitalmarkt Anleihen kaufen und zudem sämtliche Fälligkeiten reinvestieren. Neben einer Abkehr vom Kapitalschlüssel könnte auch das Volumen des APP modifiziert und eine flexiblere Handhabung beschlossen werden. Denn die Volkswirte der EZB gehen davon aus, dass die Inflation im Jahresverkauf 2022 deutlich sinken wird und somit eine expansive Geldpolitik weiterhin angemessen ist.

Wann werden die Leitzinsen erhöht?

Von daher rechnen wir damit, dass die EZB frühestens im zweiten Halbjahr 2023, aber wahrscheinlich erst 2024 damit beginnen wird, die Leitzinsen zu erhöhen, auch wenn der Kapitalmarkt, gemessen an den Euribor-Futures, derzeit noch zu einer anderen Einschätzung kommt. Für die Entwicklung der Rendite für 10-jährige Bundesanleihen bedeutet dies aus unserer Sicht im kommenden Jahr nur wenig Veränderung. Da sich Europa aber nicht vollständig von der Entwicklung der US-Treasuries abkoppeln kann, erwarten wir zum Jahresende eine Rendite für 10-jährige Bundesanleihen von +0,1 Prozent, wobei die erwartete Bandbreite zwischen -0,1 und +0,3 Prozent liegt.

Was bedeutet diese Entwicklung für Anleger?

Für Anleger bedeutet dies, dass man mit Staatsanleihen aus der Eurozone und den USA aufgrund der zu erwartenden Kursverluste auch im nächsten Jahr eine negative Wertentwicklung erzielen wird, die im Laufzeitsegment von zehn Jahren rund zwei bis drei Prozent betragen dürfte.

Auch für 2022 sind wir wie in den Vorjahren davon überzeugt, dass mit Unternehmensanleihen im Gegensatz zu Staatsanleihen eine positive Wertentwicklung erzielt werden kann.

Mehrere Argumente sprechen unseres Erachtens nach für diese Einschätzung. So haben sich die Gewinne der Unternehmen, die in der COVID-19-Krise eingebrochen waren, wieder erholt. Die Ergebnisse liegen mittlerweile vielfach auf Rekordniveau, und auch Liquidität ist bei den meisten Unternehmen in ausreichendem Maß vorhanden. Zudem ist das technische Bild für Unternehmensanleihen positiv einzuschätzen.

Obwohl die günstigen Refinanzierungsbedingungen vielfach für Neuemissionen genutzt werden, gehen wir davon aus, dass dies durch die zunehmende Anzahl der Fälligkeiten überkompensiert wird. Die Kreditaufschläge sollten sich von daher weiter verringern. Dennoch sind die Spreads selbst nach der bereits erfolgten Einengung weiterhin attraktiv. Im BB-Bereich sind die Aufschläge immer noch rund dreimal so hoch wie es für eine Kompensation der historischen Ausfallraten nötig wäre.

Des Weiteren gehen die Ratingagenturen davon aus, dass die Ausfallraten im kommenden Jahr noch weiter sinken werden. Das spiegelt sich auch im Verhältnis von Ratingverbesserungen zu -verschlechterungen wider, das im dritten Quartal beim Faktor vier lag. Und nicht zuletzt verfügen Unternehmensanleihen im Gegensatz zu Staatsanleihen über einen Puffer, um etwaige Zins- bzw. Renditeanstiege zu kompensieren. Je höher man das Risiko im Unternehmensanleihesektor wählt, umso höher ist dieser Puffer.
So ist es nicht verwunderlich, dass High-Yield-Anleihen in Phasen einer restriktiveren Geldpolitik normalerweise eine positive Wertentwicklung erzielen können und damit besser abschneiden als Unternehmensanleihen mit einem Investmentgrade-Rating und als Staatsanleihen.

Diese Argumente sprechen neben der weiter bestehenden Nachfrage durch die EZB dafür, auch 2022 bei festverzinslichen Wertpapieren eher auf Unternehmens- als auf Staatsanleihen zu setzen. Bei Unternehmensanleihen mit einem Investmentgrade-Rating erwarten wir allerdings nicht mehr als eine schwarze Null bei der Wertentwicklung.

Zu den Segmenten, die wir präferieren, gehören High-Yield- und Nachranganleihen. Hier ist der Puffer, um höhere Kapitalmarktrenditen zu kompensieren, am größten, und wir erwarten eine Wertentwicklung von zwei bis drei Prozent. Alternativen zu den klassischen Anleihesegmenten sind auch im kommenden Jahr die Bereiche der Katastrophenanleihen (Cat-Bonds) und der Mikrofinanzprodukte. Hier wurden in diesem Jahr Renditen von bis zu drei Prozent erwirtschaftet, wobei der Charme dieser Spezialthemen vor allem darin liegt, dass sie sich weitgehend unkorreliert zum klassischen Anleihemarkt entwickeln. Dies sollte auch 2022 der Fall sein.

Eine der großen Überraschungen des Jahres 2021 war …

… die Stärke des US-Dollar, sowohl gegenüber dem Euro als auch gegenüber den meisten anderen Währungen. Ausschlaggebend für die Aufwertung war die wirtschaftlichen Erholung in den USA, die von einem deutlichen Anstieg der Inflationsrate begleitet wurde. Die erwartete Abkehr der US-Notenbank von der expansiven Geldpolitik hat zu einer Ausweitung des Zinsvorteils am US-Geld- und Kapitalmarkt geführt. Schaut man auf die Differenz der Dreimonats-Geldmarkt-Futures für die USA und den Euroraum, sieht man eine Ausweitung von 66 Basispunkten per Dezember 2021, auf 105 Basispunkte im Dezember 2022, 165 Basispunkte per Ende 2023, 173 Basispunkte per Ende 2024 und 183 Basispunkte per Ende 2025.

Unterstützt wird dies von den Inflationserwartungen, auch diese liegen im Dollarraum deutlich über denen des Euroraums. Aus diesem Grund erwarten wir eine weitere, moderate Aufwertung des Wechselkurses auf 1,10 EUR/USD bis Ende nächsten Jahres, wobei zwischenzeitlich auch Kurse von bis zu 1,06 EUR/USD denkbar sind. Mit einer noch stärkeren Aufwertung wäre wohl nur für den Fall zu rechnen, wenn sich die höhere Inflation aufgrund einer Lohn-Preis-Spirale selbst verstärken würde. Dann sind schnellere und stärkere Zinserhöhungen in den USA zu erwarten, die spätestens 2024 oder 2025 zu einer Rezession führen könnten. Doch das ist nicht unser favorisiertes Szenario.


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Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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