Woher kommt die große Entkopplung der Märkte von der realen Wirtschaft?
26. Juni 2020In den letzten Wochen ist viel über die Entkopplung der Märkte von der realen Wirtschaft geschrieben worden. Dabei geht es in erster Linie um die Tatsache, dass viele Aktienmärkte in der Nähe ihrer Allzeithochs notieren, während die Wertschöpfung oder die Industrieproduktion von Volkswirtschaften gerade den größten Absturz seit vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten erleben.
Warum laufen die Märkte weiter nach oben?
Gerade erst vorgestern hat der IWF seine Prognose für 2020 noch einmal deutlich nach unten revidiert, und die Notenbanken wiederholen seit Wochen nahezu gebetsmühlenartig, dass die folgende Erholung mit hoher Wahrscheinlichkeit eher nur moderat und eben nicht stürmisch erfolgen wird. Vor diesem Hintergrund mag es in der Tat irritieren, dass Aktienmärkte mit einer gewissen Nonchalance über diese Herausforderungen hinweg zu sehen scheinen.
Ein Teil dieser Diskrepanz kann ohne Zweifel durch die extrem expansive Geld- und Fiskalpolitik erklärt werden;
Ein anderer Teil möglicherweise durch eine neue Generation von jungen Investoren, die die Corona-Krise als Chance für einen Einstieg in den Aktienmarkt genutzt und damit die Kursentwicklung in der Breite unterstützt haben. Allerdings muss auch klar sein, dass sich die positiven Effekte der expansiven Geld- und Fiskalpolitik nicht endlos fortsetzen werden – dazu müsste die Geld- und Fiskalpolitik immer aufs Neue mit noch expansiveren Maßnahmen überraschen, was eine unrealistische Annahme wäre. Auch die jungen und risikofreudigen Privatanleger verfügen nicht über unendliche Budgets, um den Markt dauerhaft anheizen zu können. Über kurz oder lang wird der Zeitpunkt kommen, an dem sich Märkte doch wieder eher den Fundamentaldaten zuwenden werden.
Doch welche Daten muss man im Blick haben?
Leider liefern die Lehrbücher hier keine eindeutige Antwort. Es wäre aber auch zu schön, wenn es „die“ richtigen Indikatoren gäbe, die immer relevant sind. Der Markt ist letztlich nichts anderes als ein sehr effizienter Such- und Enddeckungsprozess. Und in diesem Prozess geraten immer auch wieder neue Daten in den Fokus. Das spricht dafür, nicht an singulären Erklärungsfaktoren festzuhalten, sondern eine breitere Basis an Erklärungsfaktoren zu verwenden.
Standardmäßig schaut man auf Unternehmensgewinne
Auf der Ebene einzelner Aktien oder auch ganzer Märkte verwendet man standardmäßig die Gewinne, um Aussagen zu einer möglichen Fehlbewertung und damit zur realwirtschaftlichen Entkopplung treffen zu können. Das ist einerseits verständlich, da der Wert von Unternehmen langfristig den abgezinsten Gewinnen entsprechen sollte; es ist andererseits aber auch irreführend, da fehlende oder sinkende Gewinne nicht zwangsläufig immer die Folge eines rückläufigen unternehmerischen Erfolges sein müssen. So können sich Unternehmen ganz bewusst dazu entschließen, auf Gewinne zu verzichten, um massiv in die Zukunft zu investieren.
Daher sind die Gewinne zuweilen ein recht ungenaues und oft auch ein zu volatiles Maß für die wirtschaftliche Aktivität;
Diese entfaltet sich in Unternehmen und sollte ihren Niederschlag in Aktienkursen finden.
Stattdessen bauen wir eine Art „Aktivitätsindex“
Aus diesem Grund haben wir eine Art „Aktivitätsindex“ für Unternehmen entwickelt, der auf mehr als nur einer einzigen Kennzahl beruht und ein umfassenderes Bild über die Entwicklung von Unternehmen liefert:
Cash Flow, Gewinn pro Aktie, Eigenkapitalrendite, Umsätze, Buchwert, Dividende, EBIT, EBITDA, Nettoeinkommen und Vorsteuergewinn.
Alle diese Kennzahlen haben wir so standardisiert, dass sie zu einem Aktivitätsindex für eine einzelne Aktie zusammengefasst werden können. Der Verlauf dieser Kennzahl ist gegenüber einer singulären und klassischen Gewinnbetrachtung auf Basis der Gewinne pro Aktie deutlich geglätteter und damit weniger anfällig für Sondereffekte und temporäre Verwerfungen.
Was sagt dieser Index über den europäischen Markt?
Wir haben nun diese Informationen genutzt, um sie auf Indexebene zu einem wirtschaftlichen Aktivitätsindex für ganze Volkswirtschaften zu verdichten. In Europa ist dieser Index beispielsweise seit 2016 deutlich angestiegen, um dann im Laufe der Jahre 2018 und 2019 etwas abzuflachen, bevor dann Corona-bedingt der große Abriss stattfand. Anhand dieses Indexes ließe sich argumentieren, dass die wirtschaftliche Aktivität der großen börsennotierten Unternehmen in etwa auf das Niveau des Jahres 2016 zurückgefallen ist.
Aber während das Aktivitätsniveau noch keinen unteren Wendepunkt gefunden zu haben scheint, hat der Aktienmarkt einen Teil seiner Verluste schon wieder aufgeholt.
Etwas anders ist die Sache in den USA
Dort hat die Corona-Pandemie ebenfalls zu einem signifikanten Abriss der wirtschaftlichen Aktivität geführt, jedoch ist dort der Rückgang weniger scharf ausgefallen. Die wirtschaftliche Aktivität liegt dort in etwa auf dem Niveau von Anfang 2018 und zeigt nun – im Gegensatz zu Europa – erste Besserungstendenzen. Damit lässt sich vermutlich auch erklären, warum der Aktienmarkt in den USA zuletzt eine noch bessere Wertentwicklung als der Markt in Europa aufgewiesen hat. Auch die kumuliert bessere Wertentwicklung des US-Marktes gegenüber dem europäischen Markt ist in den letzten Jahren dem Umstand geschuldet, dass sich die wirtschaftliche Aktivität in der Summe signifikant besser als in Europa entwickelt hat.
Doch in welchem Umfang liegt nun aktuell eine Fehlbewertung vor?
Diese Frage lässt sich letztlich nur ökonometrisch klären.
Unser Regressionsmodell kommt hier zu der Aussage, dass auf Basis unseres Aktivitätsindikators sowohl der europäische als auch der US-Aktienmarkt überteuert sind.
In beiden Fällen hat es in den letzten Jahren keinen Zeitpunkt gegeben, in dem die Abweichung vom vermeidlich fairen Wert größer war als aktuell.
Dabei erscheint die Fehlbewertung in den USA noch größer zu sein als in Europa, obwohl dort zuletzt ein unterer Wendepunkt in der wirtschaftlichen Aktivität ausgelotet wurde.
Damit zeigt auch diese Analyse, dass ohne Zweifel eine Entkopplung der Märkte von der Realwirtschaft vorliegt. Solange aber die Notenbanken für eine überbordende Liquidität sorgen, erscheint die Wahrscheinlichkeit massiver Rückschläge jedoch begrenzt.
Autor: Dr. Christian Jasperneite
Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.
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