Ökonomische Entwicklung Deutschlands: Wo geht die Reise hin?

Wir blicken auf die ökonomische Entwicklung Deutschlands in diesem Jahr und die Perspektiven für die kommenden Monate. Selten war die Situation in den vergangenen Jahren widersprüchlicher als heute. Eine Einschätzung von Börsenexperte und Chefvolkswirt Carsten Klude.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht …

…dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ So erging es schon dem deutschen Dichter Heinrich Heine, der 1844 das Gedicht „Nachtgedanken“ mit dem oben zitierten berühmten Eingangsvers veröffentlichte. So ergeht es auch uns mit Blick auf die ökonomische Entwicklung Deutschlands in diesem Jahr und die Perspektiven für die kommenden Monate. Selten in den vergangenen Jahren war die Situation widersprüchlicher als heute. Dabei erlebt die deutsche Wirtschaft so wie wir es in unserem Mitte November 2017 veröffentlichten Konjunkturausblick erwartet haben goldene Zeiten. Unser Land befindet sich derzeit in einen Bauboom sondergleichen. Nicht nur der Wohnungsbau verzeichnet ein weiteres Rekordjahr, auch für den öffentlichen Bau und den Wirtschaftsbau werden so viele Baugenehmigungen erteilt wie niemals zuvor. Dies merkt jeder, der die Baukräne in deutschen Städten zählt oder der sich über die unzähligen Baustellen auf Autobahnen und Landstraßen ärgert.

Die meisten Innenstädte verzeichnen anhaltend hohe Besucherzahlen, nicht zuletzt dank des Ausnahmesommers 2018, der der deutschen Tourismusbranche unverhofft gute Gästezahlen verschaffte. Der Arbeitsmarkt ist so gut wie leergefegt. Fachkräfte sind kaum noch zu finden. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist mit 2,3 Millionen so gering wie niemals zuvor seit der deutschen Wiedervereinigung – zudem gibt es mehr als 800.000 offene Stellen. Vollbeschäftigung ist somit keine ökonomische Floskel mehr, sondern fast erreicht.

Dank des boomenden Arbeitsmarktes sind die Bruttolöhne und -gehälter im ersten Halbjahr 2018 um 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Doch weil die Sozialleistungen nur um 2,1 Prozent zulegten und auch die Selbständigeneinkommen mit gut drei Prozent weniger stark anstiegen, verzeichneten die verfügbaren Einkommen in diesem Jahr bislang „nur“ ein – immer noch beachtliches – Plus von 3,2 Prozent. Doch damit enden die guten Nachrichten auch schon.

Boomende Wirtschaft in Deutschland: Trügt der Schein?

Obwohl sich noch zu Beginn des Jahres die wichtigsten konjunkturellen Frühindikatoren auf oder in der Nähe von historischen Höchstständen befanden, verlor die deutsche Wirtschaft überraschend deutlich an Fahrt. Schon im ersten Quartal wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt viel schwächer als noch Ende 2017.

Sah es zunächst danach aus, als ob Sonderfaktoren wie der kalte Winter, eine Grippewelle und Streiks für den Verlust an konjunktureller Dynamik verantwortlich gemacht werden konnten, hellte sich das Bild auch im zweiten Quartal nicht wesentlich auf. Hinzu kam, dass das Statistische Bundesamt den Erwartungen an eine ungebrochene Fortsetzung des starken Aufschwungs des Jahres 2017 einen Strich durch die Rechnung machte:
Obwohl sich die Frühindikatoren fast das ganze Jahr 2017 über hinweg verbesserten, hatte die Konjunkturdynamik den revidierten Daten der Statistiker zufolge ihren Höhepunkt schon im ersten Quartal 2017 erreicht. Das Wachstum in den Folgequartalen war zwar gut, aber nur noch halb so hoch wie zu Jahresbeginn. Worauf die zunehmend größer werdende Diskrepanz mit den vorlaufenden Indikatoren zurückzuführen ist, bleibt ein Rätsel.

Wachstumsprognose für 2018 nach unten revidiert

Allerdings ist der geringere statistische Überhang für das Jahr 2018 nur ein Grund, weshalb wir unsere ursprüngliche Wachstumsprognose von 2,7 Prozent auf 1,9 Prozent nach unten revidiert haben. Die Hauptursache ist darin zu sehen, dass alle wichtigen realwirtschaftlichen Kennzahlen in diesem Jahr bislang enttäuscht haben.
So sind beispielsweise die Auftragseingänge in sechs von sieben Monaten gesunken, die Industrieproduktion entwickelte sich in fünf von sieben Monaten negativ, und die Einzelhandelsumsätze wiesen in vier von acht Monaten eine rückläufige Tendenz auf. Die schwache Entwicklung des privaten Verbrauchs überrascht nicht nur angesichts der guten Arbeitsmarktlage und der höheren Löhne. Zwar wurde die Kaufkraft durch die höhere Inflationsrate gebremst, doch deutet der ökonomisch unplausible Anstieg der Sparquote darauf hin, dass die Deutschen tatsächlich zu Kosummuffeln mutiert sind. Von daher dürfte der private Verbrauch in diesem Jahr nur um 1,4 Prozent wachsen, so wenig wie zuletzt 2014.

Realwirtschaftliche Kennzahlen: Auch andere Sparten verzeichnen sinkendes Wachstum

Ebenso enttäuschend war in diesem Jahr das Wachstum der Ausrüstungsinvestitionen und der Exporte. Angesichts einer Kapazitätsauslastung, die mit rund 88 Prozent so hoch ist wie selten zuvor, dürften Schwierigkeiten, geeignete Arbeitskräfte zu finden, eine Rolle gespielt haben.

Schwerer wiegen aber wohl die wirtschaftlichen Unsicherheiten, die von der Handelspolitik der USA ausgehen. Dies wird besonders deutlich beim Blick auf die deutsche Automobilindustrie, in der es in diesem Jahr alles andere als rund läuft. Gewinnwarnungen einiger Unternehmen aus dem Sektor sowie rückläufige Produktions- und Auftragszahlen schüren die Sorge, dass es mit Deutschlands Vorzeigeindustrie bergab geht.

Die Erklärungen für diese Entwicklung scheinen so einfach wie einleuchtend zu sein: Der Diesel-Skandal, das vermeintliche Hinterherlaufen bei der Umstellung von herkömmlichen Motoren auf den Elektroantrieb und nicht zuletzt Trumps Zolldrohungen haben das Umfeld nachhaltig belastet.

Deutsche Wirtschaft: Wachstumshindernisse hausgemacht?

Doch diese Gründe haben mit der Realität nur wenig zu tun. Unseres Erachtens nach ist die negative Entwicklung der Automobilbranche in diesem Jahr vor allem auf die hausgemachten Probleme in Zusammenhang mit der Umstellung auf den neuen Abgas-Teststandard WLTP zurückzuführen. Da bislang viele Modelle der deutschen Hersteller noch nicht zertifiziert wurden, wird die Autoproduktion im Moment deutlich reduziert. Dies könnte dazu führen, dass die deutsche Wirtschaft im 3. Quartal gar nicht mehr gewachsen oder sogar geschrumpft ist, denn immerhin entfallen 14 Prozent der gesamten Industrieproduktion auf die Autoindustrie.

Wie der Verband der Automobilindustrie berichtet, lag die Autoproduktion im August um rund 30 und im September um gut 20 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres. Ähnliche Einbrüche gab es zuletzt zu Beginn des Jahres 2009. Angesichts des hohen Auftragsbestands der deutschen Autobauer, kann man aber nicht von einer nachhaltigen Krise sprechen. Schließlich ist die Reichweite der vorhandenen Aufträge mit drei Monaten mehr als komfortabel. Zudem ist der Wert der Auftragsbestände trotz der schwächeren Entwicklung aus dem Inland so hoch wie nie zuvor, was auf die ungebrochen hohe Auslandsnachfrage zurückzuführen ist.

Konjunktur: Automobilindustrie könnte über Entwicklung entscheiden

Doch auch wenn der drastische Produktionsrückgang nur eine temporäre Störung ist, könnte er eine erneute Revision der Konjunkturprognose erforderlich machen. Entscheidend wird sein, wann diese Probleme überwunden werden. Zieht die Autoproduktion im Laufe des vierten Quartals wieder deutlich an, könnte auf Gesamtjahressicht noch ein Wachstum von 1,7 Prozent erreicht werden.

Setzt der Aufholprozess dagegen erst im nächsten Jahr ein, könnte das deutsche BIP in diesem Jahr auch nur um 1,6 Prozent wachsen. Eine weitere Abschwächung halten wir aber nicht für wahrscheinlich, sodass auch 2019 eine solche Wachstumsrate erreicht werden sollte. Wie schrieb Heine 1844? „Deutschland hat ewigen Bestand, es ist ein kerngesundes Land!“ Als Ökonom kann man dieser Aussage im Moment nur zustimmen.

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Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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