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Unser Regierungsprogramm für die Jahre 2025-2029
14. Februar 2025Deutschland befindet sich in einer miserablen Lage. Die Industrieproduktion hat sich in den letzten zehn Jahren so schlecht entwickelt wie in keinem anderen wichtigen Land der Welt. Die Wertschöpfung hat sich in diesem Zeitraum völlig vom globalen Wachstumstrend abgekoppelt. Wäre Deutschland in den letzten zehn Jahren nur so stark gewachsen wie die an sich schon schwache Eurozone, wäre die kumulierte Wertschöpfung in diesem Zeitraum um 700 Mrd. Euro höher ausgefallen.
Bei einer Staatsquote von 50% hat der Staat in wenigen Jahren auf etwa 350 Mrd. Euro an Gestaltungsspielraum verzichtet. Kein Wunder, dass die Infrastruktur im Rekordtempo zerfällt und öffentliche Gebäude so marode sind, dass man sich schon fast schämen muss.
Deutschland am Scheideweg
Bisher konnten wir unsere wirtschaftlichen Defizite noch durch unsere enorme Substanz kaschieren, aber auch das gelingt immer weniger gut. Immer mehr Unternehmen verlassen das Land, und noch nie haben so viele Unternehmen zumindest darüber nachgedacht, das Land zu verlassen.
Wer mit mittelständischen Unternehmen spricht, erlebt eine Mischung aus Frustration und Verzweiflung.
Aber auch sonst läuft es nicht rund. Wenn man durch deutsche Innenstädte geht, sieht man so viele verwahrloste Ecken und rechtsfreie Räume, dass man sich fast in den dystopischen Kulissen eines Films wie Blade Runner (1982) wähnt. Doch leider ist dies Deutschland. Und während sich der Rest der Welt eher auf einem aufsteigenden Ast befindet, geht es bei uns leider in die andere Richtung. Auch das Bildungsniveau – egal ob an Schulen oder Universitäten – scheint im freien Fall zu sein, und die desaströse Demographie wirft trotz Rekordzuwanderung ihre Schatten voraus.
Probleme mit der Integration
Seit 2015 sind rund 12,5 Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert – das entspricht der Bevölkerung eines großen Bundeslandes. Inzwischen gelingt die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund jedoch immer schlechter. Enttäuschungen führen dazu, dass viele Zugewanderte das Land wieder verlassen, was die Probleme noch verschärft, da sich die Integrationsbemühungen in vielen Fällen nicht auszahlen. Auch politisch steht das Land an einem Scheideweg. Immer mehr Menschen wählen Parteien an den politischen Rändern. Wenn man diesen Trend noch einige Jahre fortschreibt, muss man sich ernsthafte Sorgen um die Zukunft des Landes machen. Kleinere Adjustierungen reichen schon gar nicht mehr aus.
In gewisser Weise muss sich das Land neu erfinden, und zwar in der ganzen Breite politischer Fachbereiche und Themen.
Angesichts der sich abzeichnenden Dramatik ist es fast verwunderlich, wie ruhig dieser Wahlkampf verläuft. Sehr viele Institutionen halten sich auffallend zurück; auch im Bereich der Banken und Asset Manager finden sich nur vereinzelt Äußerungen, die als Beitrag zur politischen Willensbildung gewertet werden könnten.
Wir halten das für einen Fehler.
Es ist schade, dass immer häufiger der Eindruck entsteht, man könne nur verlieren, wenn man sich zu politischen Themen äußert. Denn damit überlässt man das Feld denen, die am lautesten schreien und oft die geringste Ahnung haben. Wir meinen, dass es gerade in Krisenzeiten fast schon eine Bürgerpflicht ist, sich an dieser Debatte zu beteiligen. Daher haben wir uns entschlossen, im Kontext der Bundestagswahl eine Art „Regierungsprogramm“ für die neue Bundesregierung zu erarbeiten. Dabei waren wir bewusst bereit, mutig und zuweilen auch pointiert zu argumentieren.
Das mag nicht jedem gefallen, aber wir erheben auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder die absolute Wahrheit.
Vielmehr sehen wir darin den Versuch, Aspekte in die Diskussion einzubringen, die aus unserer Sicht bisher zu wenig gewürdigt wurden, aber gerade aus ökonomischer Sicht zwingend diskutiert werden müssen. Auf geht’s!
Deutschland braucht eine Mentalitätswende
Wir können uns in Deutschland auf den Kopf stellen und versuchen, die größten Reformen seit Jahrzehnten auf den Weg zu bringen – wenn es keinen Wandel in den Köpfen der Menschen gibt, werden auch Reformen nicht auf fruchtbaren Boden fallen.
Deutschland wirkt manchmal wie ein Land an, das sich schon aufgegeben hat.
Wir müssen den Anspruch formulieren wollen, auch in 30 oder 50 Jahren noch eine bedeutende Industrie- und Kulturnation zu sein. Wir müssen auch den Anspruch haben, strategisch denken und handeln zu wollen, und zwar auch zum eigenen Vorteil. Wir müssen wieder Spaß daran haben, groß zu denken. Nicht kleinkariert! Deutschland ist (noch) die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Aber wir verhalten uns aber manchmal wie ein kleines Kanton in den Schweizer Bergen. Das funktioniert nicht mehr in einer Welt, in der viele Länder wieder anfangen, mit dem Ellenbogen eigene Interessen durchzusetzen. Wenn es darüber keinen Konsens gibt, braucht man mit dem Rest auch nicht anzufangen. Ohne ein gesundes Selbstbewusstsein und einen gewissen Selbstbehauptungswillen in Kombination mit dem Willen, die Zukunft im eigenen Interesse gestalten zu wollen, wird es nicht gehen.
Leider haben wir es in Deutschland fast verlernt, eigene Interessen zu verfolgen und sie zu artikulieren.
Während alle großen Volkswirtschaften der Erde durchaus in geoökonomischen Dimensionen denken, haben wir teilweise regelrechte Berührungsängste, uns auch nur thematisch in diese Richtung zu bewegen. Das ist allerdings völlig naiv und zeigt, das große Teile der Politik, der Medien und auch der Bevölkerung noch gar nicht verstanden haben, welches Spiel inzwischen global gespielt wird.
Wir halten uns in Deutschland immer für besonders weltoffen – dabei sind wir eine gewaltige Echokammer, die ständig mit sich selbst beschäftigt ist und kaum mitbekommt, welche Trends sich international durchsetzen
Das kann man gut finden oder auch nicht. Aber wenn wir nicht langsam wieder anfangen, unsere eigenen Interessen zu definieren, strategisch zu denken und über Jahrzehnte hinaus zu planen, werden wir schneller an Bedeutung und Gestaltungsspielraum verlieren, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen vorstellen können.
Warum wir eine neue Schuldenbremse benötigen
Die Schuldenbremse ist an sich eine ganz vernünftige Einrichtung. Der deutsche Staat und auch die deutschen Sozialsysteme nehmen jedes Jahr etwa 2.000 Mrd. Euro in die Hand. Hier besteht grundsätzlich ein gewaltiger Spielraum, um Prioritäten in der Politik zu verschieben und neue gestalterische Akzente zu setzen, wenn man es denn will. Insofern ist es auch eine falsche Behauptung, man könne keine zusätzlichen Belastungen von 30 oder 40 Mrd. Euro aus den laufenden Haushalten schultern, ohne die Schuldenbremse aufweichen zu dürfen. Das kann man, wenn man den politischen Willen dazu hat. Trotzdem sind wir inzwischen für eine Neukonstruktion der deutschen Schuldenbremse. Dafür gibt es zwei Gründe.
Die lauernder Gefahr einer Schuldenunion
Der erste Grund ist eher pragmatischer Natur.
Wir halten es nicht für ausgeschlossen, dass Europa in Zukunft auf eine Vergemeinschaftung der Schulden zusteuert.
Die spezifische Strukturierung des Corona-Fonds war dafür ein Testballon; spätestens in der nächsten großen Krise könnte es entgegen aller Regeln und Verträge im Kontext der Währungsunion zu einem Dammbruch kommen und der Weg in die Schuldenunion geebnet werden. Wir in Deutschland können uns dies nicht gut vorstellen, da wir uns ein bisschen zu sehr mit uns selbst und zu wenig mit den Vorgängen im restlichen Europa beschäftigen.
Deutschland ein Autist?
Wir halten uns immer für mustergültige Europäer, zeigen aber de facto ein autistisches Verhalten, wenn es darum geht, subtile Veränderungen in den politischen Strömungen in Europa zu „lesen“. Wenn man nun aber als Arbeitshypothese für eine logische Sekunde unterstellt, dass Europa auf dem Weg in die Vergemeinschaftung von Schulden ist, dann ergibt eine nationale Schuldenbremse keinen Sinn mehr. Sie ist schlicht systemfremd. Denn sie führt dazu, dass man sich bis zur letzten Sekunde „quält“, indem man versucht, die Schuldenbremse einzuhalten, um dann eine Sekunde später für die „Party“ der anderen zu haften. Das ist weitgehend sinnbefreit und auch spieltheoretisch absoluter Wahnsinn.
Das Festhalten an einer Schuldenbremse ist nur dann sinnvoll, wenn man unterstellt, dass Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg fiskalpolitisch souverän bleibt, um die Vorteile des verantwortungsvollen Wirtschaftens „ernten“ zu können.
Aber genau daran haben wir Zweifel. Und ja, eine Vergemeinschaftung von Schulden ist nicht nur vertragswidrig, sondern auch ordnungspolitisch ein Graus. Sie führt vermutlich zu Verwerfungen, ungünstigen Anreizstrukturen und am Ende sogar zu einer Krise der Währungsunion.
Aber gerade wenn man diese Sorgen teilt, ist es umso logischer, die nationale Schuldenbremse zu reformieren. Denn gerade wenn es eines Tages zum großen Knall kommt, möchte man diese Krise lieber mit einer sehr guten Infrastruktur und einem großen Privatvermögen erleben als mit einem Land, das bis zum letzten Moment mit eiserner Disziplin maximal asketisch gelebt hat und keinen „Speck“ auf den Rippen hat. Denn eines muss gesagt werden: Die teilweise sehr laxe fiskalpolitische Disziplin in anderen europäischen Ländern führt natürlich auch dazu, dass Vermögen zu Privatpersonen und Unternehmen transferiert werden, während genau das in Deutschland nicht passiert.
Wir kommen nicht umhin Vermögen in den privaten Bereich zu verlagern
Sollte es zu einem großen „Knall“ kommen und der währungspolitische Resetknopf gedrückt werden, wäre Deutschland maximal schlecht beraten, wenn es nicht vorher Vermögen (direkt und indirekt) in den privaten Bereich verlagert hätte. Wir sind uns durchaus bewusst, dass diese Gedanken in Deutschland untypisch sind und zum Teil auf heftigen Widerstand stoßen. Aber es zeigt eben auch, dass wir in Deutschland verlernt haben, etwas „abgebrüht“ zu denken. Unsere Denkmuster sind zu sehr von Wunschdenken und Gesinnung geprägt, während die Macht des Faktischen letztlich die Realität bestimmt.
Aufholbedarf bei staatlichen Investitionen
Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum wir für eine Lockerung der Schuldenbremse plädieren. Es ist zwar möglich, in den öffentlichen Haushalten jedes Jahr einen Spielraum von 30 oder 50 Mrd. Euro zu schaffen. Aber bei 100 oder 150 Mrd. Euro wird es schwierig. Und die Krise in Deutschland ist aus unserer Sicht inzwischen so groß, dass wir über zusätzliche Ausgaben in einer Größenordnung von 100 oder 150 Mrd. Euro pro Jahr nachdenken müssen, um das Land wieder auf Vordermann zu bringen.
Egal ob Infrastruktur, Bildung, innere oder äußere Sicherheit: All das ist in den letzten Jahrzehnten zugunsten des Ausbaus des Sozialstaates derart vernachlässigt, dass hier ein gewaltiger Aufholbedarf besteht.
Deutschland hat eigentlich nur noch einen Standortvorteil. Und dieser Standortvorteil besteht darin, extrem gering verschuldet zu sein. Diesen Standortvorteil müssen wir in die Waagschale werfen.
Dazu haben wir keine Alternative mehr.
Das ist sozusagen unser letzter Schuss im Revolver. Wir müssten fast verrückt sein, hier nicht abzudrücken. Wir sollten zudem nicht vergessen, dass das Wachstum anderer Länder auch zu einem erheblichen Teil durch Schulden ausgelöst wurde, wobei das höhere Wachstum wiederum die Bonität der Staaten trotz höherer Verschuldung absichert. Eine wachsende Wirtschaft mit etwas mehr Verschuldung ist für Rating-Agenturen strukturell tatsächlich interessanter und attraktiver als eine stagnierende oder schrumpfende Wirtschaft mit etwas weniger Schulden.
Mehr Arbeit für mehr Wohlstand
Wir sind in Deutschland stolz darauf, dass wir in den letzten Jahren die Zahl der Beschäftigten erhöht haben. Leider ist das nur die halbe Wahrheit. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass unsere Produktivität in den letzten Jahren immer weiter gesunken ist. Dies ist auf den hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigung in Verbindung mit sehr viel Urlaub und sehr vielen Krankheitstagen zurückzuführen. Denn pro Erwerbstätigem (gemessen am Jahresarbeitsstundenvolumen) wird fast nirgendwo auf der Welt so wenig gearbeitet wie in Deutschland. Auch das Jahresarbeitszeitenvolumen pro Kopf liegt im internationalen Vergleich im unteren Bereich.
Wir denken immer, dass wir in Deutschland besonders fleißig sind, aber das stimmt schon seit vielen Jahren nicht mehr.
Auch hier leben wir mit unserer Wahrnehmung in einer Blase, die mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat.
Handlungskatalog für eine höhere Produktivität
Wir brauchen dringend eine höhere Arbeitsmarktpartizipationsrate – gerade auch von Menschen mit Migrationshintergrund. Es ergibt keinen Sinn, einerseits das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt zu sein und andererseits bei der Integration von Einwanderern in den Arbeitsmarkt mehr oder weniger kläglich zu versagen. Wir müssen auch viel länger arbeiten.
Das Renteneintrittsalter muss nach oben verschoben werden, auch wenn das politisch nicht populär ist.
Allerdings sollte der Politik ohnehin klar sein, dass die Zeit der sozialpolitischen Wohltaten vorbei ist. Die Hütte brennt – wenn wir jetzt immer noch glauben, dass ein „Weiter so“ irgendwie funktioniert, übersehen wir geradezu sträflich die Probleme, die dringend gelöst werden müssen.
Allein schon die Finanzierung der Sozialversicherungen ist in Zukunft nur noch realistisch darstellbar, wenn das volkswirtschaftliche Arbeitsstundenvolumen deutlich steigt. Es ist befremdlich, dass diese Erkenntnis in weiten Kreisen der Politik noch nicht angekommen zu sein scheint. Was ist also zu tun, um das volkswirtschaftliche Arbeitsstundenvolumen nach oben zu ziehen? Die Maßnahmen sind allesamt weder neu noch besonders innovativ. Sie stehen seit Jahrzehnten in jedem Lehrbuch und müssen eigentlich nur umgesetzt werden. Dazu braucht es politischen Mut und am besten tut man es gleich in den ersten Tagen einer neuen Bundesregierung.
Hier also die Liste der Aufgaben:
- Das Renteneintrittsalter muss auf 68 Jahre angehoben werden.
- Frühverrentungen dürfen nicht länger gefördert werden.
- Der steuerliche Grundfreibetrag muss deutlich erhöht werden.
- Außerdem muss der Progressionsverlauf des Grenzsteuersatzes deutlich flacher verlaufen, damit es wieder Anreize gibt, von Teilzeit in Vollzeit zu wechseln.
- Schließlich muss die Grundsicherung im Sozialsystem deutlich weniger üppig ausfallen als bisher. Dies gilt vor allem für Menschen, die völlig gesund und arbeitsfähig sind, aber nicht arbeiten.
- Im Gegenzug muss die (wirklich völlig verrückte!!) Transferentzugsrate von etwa 100% auf etwa 50% gesenkt werden.
Das alles kostet viel Geld, ist aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Menschen überhaupt wieder einen ökonomischen Anreiz verspüren, aus der sozialen Vollabsicherung in den Arbeitsmarkt zu wechseln.
Derzeit sind die Anreizstrukturen so, dass es aus rein ökonomischer Perspektive geradezu irrational ist, wieder eine Arbeit aufzunehmen.
Dieser Fehler besteht in Deutschland übrigens schon seit Jahrzehnten und wurde durch die Einführung des Bürgergeldes nur noch leicht „verschlimmert“. Es bleibt ein ewiges Rätsel, warum es den verschiedenen Bundesregierungen nicht gelungen ist, hier eine Korrektur herbeizuführen. Die nächste Bundesregierung muss hier unbedingt die Axt ansetzen, um die Wende zu schaffen.
Ohne mehr Arbeit kein ausreichendes Wachstum, ohne ausreichendes Wachstum keine Lösung der wirtschaftlichen Probleme.
Zurück zum Subsidiaritätsprinzip
Und vielleicht noch eine ganz grundsätzliche Überlegung: In der katholischen Soziallehre gibt es das Prinzip der Subsidiarität. Es besagt, dass der Staat die Menschen ermächtigen und befähigen soll, selbst Verantwortung für sich und die Gemeinschaft zu übernehmen. Wer arbeiten kann, soll arbeiten. Das war über Jahrzehnte auch die gelebte sozialpolitische Philosophie der Sozialdemokratie. Heute aber wird dieses Prinzip geradezu umgekehrt. Nicht die Menschen werden befähigt, für sich selbst zu sorgen, sondern der Staat sorgt direkt für die Menschen. Von Befähigung zur Selbstbestimmung kann keine Rede mehr sein.
Ein übergriffiger Staat?
In gewisser Weise ist das Verhalten des Staates fast schon übergriffig, denn die Konstruktionsmerkmale des deutschen Sozialstaates machen es schwer, sich seinen Fängen zu entziehen, wenn man einmal „Kunde“ des Systems geworden ist. Das grundsätzlich vollkommen richtige Subsidiaritätsprinzip wird inzwischen mit den Füßen getreten, und eigentlich hat keiner etwas davon. Es wird höchste Zeit, hier Korrekturen vorzunehmen.
Deutschland braucht Wachstum, kein „Degrowth“
Wer schulpflichtige Kinder hat oder hatte, hat vermutlich schon mal mit einigem Staunen auf Unterrichtsmaterialen geschaut, die sich sehr kritisch mit Wachstum auseinandersetzen. Die Logik hinter diesen Degrowth-Theorien ist die folgende: Es kommt nicht so sehr auf das Wachstum der Wertschöpfung an, sondern auf deren bessere Verteilung. Zudem sei hohes Wachstum mit Ressourcenverbrauch verbunden, den es zu minimieren gelte. Daher wird eine stagnierende oder sogar schrumpfende Wirtschaft zumindest implizit und oft sogar explizit befürwortet. Problematisch an dieser in Teilen von Gesellschaft und Politik verbreiteten Sichtweise ist, dass sie von einem geradezu fatal statischen Wirtschaftsverständnis ausgeht. Als Ökonom weiß man, dass Verteilungsziele in einer stagnierenden Wirtschaft nur sehr unzureichend umgesetzt werden können, da der Verteilungsspielraum begrenzt ist.
Erst eine wachsende Wertschöpfung eröffnet den Spielraum, um distributive Ziele mit einem hohen Zielerreichungsgrad zu erreichen.
Zudem haben gerade Menschen mit geringem Einkommen langfristig wenig davon, wenn in einer Volkswirtschaft eine starke Umverteilung stattfindet, sie aber gleichzeitig nicht am Wachstum der Wertschöpfung partizipieren können, weil es kein Wachstum gibt. Angenommen, es gäbe zwei konkurrierende Volkswirtschaften. Die eine setzt auf starke Umverteilung und Schrumpfung, die andere auf etwas weniger Umverteilung, aber Wachstum. Was denken Sie?
In welchem Land sollten Sie leben, wenn Sie sich der Gruppe der Geringverdiener zugehörig fühlen?
Wer rational ist, wählt hier eindeutig das Land, das auf Wachstum setzt. Wobei Wachstum nicht zwangsläufig mehr Ressourcenverbrauch bedeutet. Das mag in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts so gewesen sein, aber heute wachsen vor allem die Länder, die auf technologischen Fortschritt und einen forcierten und stetigen Strukturwandel setzen. Statische und stagnierende Volkswirtschaften, die (notgedrungen) an alten Technologien und Produktionsverfahren festhalten, gehen nicht mit maximaler Ressourceneffizienz um.
Denn stagnierende und schrumpfende Volkswirtschaften sind kein bevorzugtes Ziel für Investitionen.
Fortschritt findet dort kaum noch statt, und damit ist der Ressourcenverbrauch pro Wertschöpfungseinheit höher als in wachsenden Volkswirtschaften. Wir sollten uns auch nicht der Illusion hingeben, dass die katastrophale demographische Situation in Deutschland ohne Wachstum zu bewältigen wäre. Schrumpfung ist für Deutschland überhaupt keine Option mehr. Sollten wir uns dennoch dafür entscheiden, kann man eigentlich nur jedem vernünftigen Menschen raten, rechtzeitig das Land zu verlassen.
Wende in der Energiewende
Der CO2-Handel und die deutsche Energiepolitik
In Europa werden die CO2-Emissionen durch den CO2-Handel gesteuert und planmäßig reduziert. Emissionen können nur stattfinden, wenn sie durch das Löschen von Emissionsrechten legitimiert sind. Damit befindet sich Europa automatisch auf einem Reduktionspfad, da die Anzahl der Rechte für die nächsten Jahrzehnte bereits festgelegt ist.
Das Emissionsbudget wird damit abschließend definiert.
Aus diesem Grund ist es nur bedingt sinnvoll, wenn Deutschland eine eigene Politik zur Energiewende betreibt, die in Teilen nicht mit den Wirkungsmechanismen des EU-Emissionshandels kompatibel ist. Wenn wir beispielsweise Kohlekraftwerke stilllegen, dann hat das keinen Klimaeffekt, da die Emissionsrechte, die sonst für den Betrieb dieser Kraftwerke benutzt worden wären, nun von anderen Kraftwerken im übrigen Europa für eine längere Laufzeit genutzt werden können.
Im Prinzip subventionieren wir durch die Abschaltung von Kohlekraftwerken nur den Weiterbetrieb von fossilen Kraftwerken im Rest Europas.
Deshalb könnten wir uns in Deutschland eigentlich darauf beschränken, Strom besonders verlässlich und besonders günstig zu produzieren. Alle klimarelevanten Aspekte werden sehr effizient durch den Emissionshandel geregelt. Aber selbst hier machen wir nicht unsere Hausaufgaben. Dazu ein Beispiel. Wenn sich die Windgeschwindigkeit verdoppelt, verachtfacht (!!!!) sich die Stromausbeute einer Windkraftanlage. Das ist Physik. Da auf dem Meer der Wind dramatisch stärker und zudem viel konstanter weht als an Land, spricht alles dafür, Windkraftanlagen fast nur noch Offshore oder zumindest in Küstennähe zu bauen.
Der dramatisch stockende Ausbau der Stromnetze
Doch der dramatisch stockende Ausbau der Stromnetze nach Süddeutschland, das Fehlen getrennter Strompreiszonen in Deutschland und fehlende Investitionen in massenhafte Elektrolyseure für Wasserstoff und Wasserstoffspeicher, um den Strom bei einem Überangebot sinnvoll nutzen zu können, bremsen diese Entwicklung bisher aus. Stattdessen werden in Deutschland häufig Windkraftanlagen an eher suboptimalen Standorten gebaut, die in Dunkelflauten kaum Strom liefern. Da Dunkelflauten nicht nach 30 Minuten vorbei sind, sondern Tage und Wochen andauern können, brauchen wir als Rückfalllösung immer einen kompletten konventionellen Kraftwerkspark.
Wir zahlen also jetzt schon dreifach:
- Einmal für Wind und Solar (zunehmend an suboptimalen Standorten bei weiterem Ausbau), dann für Speicherlösungen und schließlich für konventionelle Kraftwerke.
- Außerdem zahlen wir noch für Einspeisevergütungen, auch wenn niemand den Strom braucht.
- Und wir zahlen auch alle direkt und indirekt die volkswirtschaftlichen Systemkosten, die dadurch entstehen, dass Erneuerbare immer einen Anspruch auf Netzanschluss haben, egal ob das sinnvoll ist oder nicht.
- Zudem entstehen volkswirtschaftliche Opportunitätskosten dadurch, dass wir die Atomkraft nicht mehr nutzen dürfen, obwohl man sie hätte nutzen können.
Dabei geht es nicht nur um die letzten drei AKWs, die letztes Jahr abgeschaltet wurden. Deutschland verfügte über einen Park von 36 leistungsfähigen Kernkraftwerken (in der ewigen Bestenliste der leistungsfähigsten AKWs der Welt finden sich immer noch viele deutsche Anlagen), die extrem zuverlässig, sicher und vergleichsweise günstig konstant mehr als 20 GW an Strom produziert haben. 20 GW an gesicherter (nicht nur wackeliger, rein rechnerischer installierter) Leistung aus der Rechnung zu nehmen, wenn ein Land in der Spitze 80 GW benötigt und in Zukunft durch Wärmepumpen, Elektroautos und elektrifizierte Industrieprozesse auf 100 GW zusteuert, ist an sich schon ein Husarenstück. Wenn man dann noch bedenkt, dass Deutschland an Tagen mit extremer Dunkelflaute immer noch etwa 20 GW an Kohlestrom benötigt, ließe sich argumentieren, dass wir ohne den Ausstieg aus der Kernenergie die schmutzigen Kohlekraftwerke gar nicht mehr benötigen würde
Hohe Stromkosten und die Abhängigkeit vom Ausland
Und jetzt wundern wir uns, dass wir die höchsten Stromkosten der Welt haben und die energieintensive Industrie das Land verlässt. Dabei haben wir bei der Energiewende gerade erst die „low hanging fruits“ geerntet; die Komplexität nimmt ab jetzt enorm zu, wenn der Anteil der erneuerbaren Energien noch einmal deutlich steigt und sich mangels CO2-freier grundlastfähiger Kernkraftwerke das Vorhalten konventioneller Kapazitäten für Dunkelflauten bei weiter sinkenden Auslastungsgraden irgendwann gar nicht mehr rechnet und dann massiv subventioniert werden muss – wiederum mit entsprechenden Folgen für den volkswirtschaftlichen Systempreis von Strom.
Rest Europas muss in die Bresche springen
Und weil das alles nicht zusammenpasst, verlassen wir uns in Deutschland immer mehr darauf, dass der Rest Europas in die Bresche springt und für uns Strom produziert, wenn wir es selbst nicht mehr zu vertretbaren Kosten schaffen. Lustigerweise glauben viele in Deutschland, dass wir damit unseren europäischen Partnern einen Gefallen tun, denn natürlich können die Stromversorger in Frankreich (Atomstrom!) und anderen Ländern prächtig daran verdienen. Die Sache hat nur einen Haken. Mit unserer Stromknappheit treiben wir auch die Strompreise im übrigen Europa in die Höhe. Das finden die Menschen und auch die Politik immer weniger gut. In Schweden hat man deshalb bereits beschlossen, den weiteren Netzausbau in Richtung Deutschland zu stoppen, damit Deutschland die schwedischen Strompreise nicht weiter „infizieren“ kann. Auch in Norwegen rumort es bei diesem Thema gewaltig.
In der Verteidigungspolitik sind wir als Trittbrettfahrer schon kläglich gescheitert – nun droht das gleiche in der Energiepolitik.
Behörden verkleinern, Gesetze streichen
In Deutschland nimmt die Zahl der Mitarbeiter in den Behörden ständig zu. Gleichzeitig hat man das Gefühl, dass die Bearbeitungsgeschwindigkeit und auch die Qualität immer mehr abnimmt. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen gibt es viel zu viele Gesetze und Verordnungen. Die Regelungsdichte hat teilweise ein realsatirisches Ausmaß erreicht. Wenn man mutig wäre, müsste man eigentlich überlegen, welche Gesetze und Vorschriften der letzten 20 Jahre einfach gestrichen werden können.
Wir brauchen hier keine Kettensäge und auch keinen Elon Musk, aber es hilft auch nicht, eine Kommission mit der Entbürokratisierung zu beauftragen, die dann 2029 ein paar Vorschläge unterbreitet. Dafür ist es zu spät.
Wir brauchen jetzt ein vergleichsweise radikales Handeln, das zu einer deutlichen Verschlankung des Staates führt.
Zum anderen liegt die scheinbar schlechte Performance der Verwaltungen aber auch einfach an der Kultur, die in vielen Verwaltungen gelebt wird. Aus Angst, einen Fehler zu machen oder eine Entscheidung zu treffen, die aus Sicht der Behördenleitung politisch nicht opportun ist, werden oft gar keine Entscheidungen mehr getroffen. Wir müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden wieder ermutigen und befähigen, schnell und dezentral effiziente Entscheidungen zu treffen. Dass auch das Thema Digitalisierung neu gedacht werden muss, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Vielleicht ist das aber auch eine Chance. Da Deutschland hier die letzten 25 Jahre komplett verschlafen hat, könnte man dieses Thema auch vor dem Hintergrund von KI noch einmal ganz neu denken. Aber so wie es jetzt ist, kann es sicher nicht bleiben.
Bildung neu denken
Das Bildungsniveau in Deutschland befindet sich im Vergleich zur eigenen Geschichte, aber auch im Vergleich zu anderen Ländern mehr oder weniger im freien Fall. Das legen zumindest die Pisa-Studien nahe. Allerdings wissen wir nicht wirklich, wie es um die Bildung bestellt ist, denn es gibt keine flächendeckende nationale Erhebung über den Leistungsstand der Schüler. Man könnte natürlich auf die Schulnoten schauen, aber die sind längst nicht mehr aussagekräftig. Hier macht inzwischen jedes Bundesland und letztlich jede Schule, was sie will. Was wir brauchen, ist eine Vollerhebung des Leistungsstandes jedes Schülers in jedem zweiten Schuljahr in Deutschland. Dann wüssten wir endlich, in welchen Regionen, in welchen sozialen Milieus, in welchen Schulformen und mit welchen pädagogischen Ansätzen welche Leistungen erbracht werden.
Das Thema Bildung ist in Deutschland sehr gefühlsbetont und ideologisch besetzt. Hier brauchen wir mehr Zahlen, Fakten, Empirie.
Das, was wir in den letzten Jahren gemacht haben, scheint jedenfalls nicht zu funktionieren. Dazu gehört übrigens auch die Erkenntnis, dass wir in Zukunft wahrscheinlich weniger Abiturienten und Studenten brauchen. Machen wir uns nichts vor. In den nächsten Jahrzehnten können sehr viele akademische Tätigkeitsfelder durch KI-Systeme ersetzt werden. Aber Handwerker, hochqualifizierte Arbeiter und Menschen in Pflegeberufen und personenbezogenen Dienstleistungen werden wir immer brauchen. Wir müssen uns endlich von der Vorstellung verabschieden, dass eine erfolgreiche Wirtschaft möglichst viele Akademiker braucht. Nicht mehr die Quantität ist entscheidend, sondern die Qualität. Und da haben wir ein Problem. Hier müssen wir ansetzen.
Europa neu ordnen
Vieles in Europa ist historisch gewachsen. Das hat den Nachteil, dass aus heutiger Sicht viele Prozesse und Entscheidungswege nicht optimal funktionieren oder zu suboptimalen Ergebnissen führen. Eigentlich müsste man noch einmal ganz von vorne anfangen und überlegen, wie ein derart komplexes föderales System eigentlich aufgebaut sein müsste. Zunächst wäre die Frage zu beantworten, auf welcher Ebene eines solchen föderalen Systems welche Leistungen und Entscheidungskompetenzen angesiedelt sind. Diese Aufgaben müssten dann auch auf dieser Ebene finanziert werden, idealerweise durch eigene Steuern. Erst dann wäre aus demokratietheoretischer Sicht auch für den Bürger nachvollziehbar, welche Ebene ihre Aufgaben tatsächlich wie effizient erfüllt. Diese Zurechenbarkeit ist derzeit nicht darstellbar.
Für ein komplexes demokratisches, föderales System ist hier viel mehr Transparenz und Effizienz unabdingbar, sonst droht ein Vertrauensverlust.
Darüber hinaus sollten wir in Europa auch selbst ein Interesse daran haben, dass Europa als homogene und effizient handelnde Wirtschaftsmacht in der Welt ernster genommen wird. Im Moment tun wir viel dafür, dass dies nicht der Fall ist.
Ein Appell für eine offene Debatte
Und noch ein paar letzte Worte…
Möglicherweise haben Sie beim Lesen mehrfach geschluckt und waren mit unserer Sichtweise nicht einverstanden. Das ist wunderbar und vollkommen in Ordnung. Keiner kann von sich behaupten, die Weisheit für sich gepachtet zu haben – auch wir nicht! Allerdings haben wir den Eindruck, dass in den letzten Jahren der Korridor der veröffentlichten Meinung hier und da ein wenig zu eng wurde.
Wir müssen in Deutschland wieder lernen, auf Augenhöhe, mit Respekt, Anstand und Fachwissen um die besten Ideen zu streiten.
Ohne Rücksicht auf das, was in dem Moment vielleicht politisch opportun oder politisch korrekt sein mag. Sondern allein mit dem Fokus darauf, was dem Gemeinwohl langfristig am besten dient. Und wenn man nach dem Streit immer noch (oder erst recht) zusammen einen Wein oder ein Bier trinken kann, dann ist das noch viel besser.
Wir sehen daher diesen Beitrag vor allem aus der Perspektive, einen Stein ins Wasser geworfen zu haben.
Es geht darum, hier und da neue Impulse und Sichtweisen zu liefern, auch wenn sie nicht zwingend Mainstream sind. Wir glauben, dass wir aber ab und zu aus diesem Mainstream ausbrechen müssen, um Probleme zu lösen, die in den letzten Jahren nicht mehr angegangen wurden. Wenn wir das nicht schaffen, wird der Rückstau an Problemen irgendwann so groß, dass die Demokratie in Gefahr gerät.
Foto von Unsplash von Yannic Kreß
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Autor: Dr. Christian Jasperneite
Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.
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