Türkische Zentralbank senkt den Leitzins: Konsequenzen dieser kontraintuitiven geldpolitischen Strategie

Ähnlich wie in den meisten Teilen der Welt hat die Pandemie auch in der Türkei inflationstreibend gewirkt. In diesem Beitrag untersuchen wir die Reaktion der türkischen Zentralbank auf die jüngsten Preisanstiege.

i↓ →I↑ →Y↑. Zwar ist die Volkswirtschaftslehre keine Naturwissenschaft und somit nicht in der Lage, Wirkungszusammenhänge als unbestreitbare Naturgesetze zu postulieren, dennoch würden der dargestellten Kausalkette (unter bestimmten Annahmen!) wohl fast alle Ökonomen zustimmen:

  • Ein niedrigerer Zins (i) macht Sparen unattraktiver und verbessert die Kreditkonditionen,
  • sodass die Investitionen (I) angeregt werden und
  • die Wirtschaft (Y) stärker wächst.

Die Preise werden in einem Umfeld höherer Nachfrage normalerweise ebenfalls ansteigen und somit auch die Inflation als Veränderungsrate des allgemeinen Preisniveaus. Beschrieben wird hier einer der sogenannten geldpolitischen Transmissionskanäle: Mechanismen, über die sich ein geldpolitischer Impuls auf die Realwirtschaft auswirkt.

Wirkungszusammenhänge zwischen Realzinsniveau, Wechselkurs und Wirtschaftswachstum

Ein ähnlicher Mechanismus kann auch hinsichtlich des Wechselkurses beschrieben werden. Ein niedrigeres heimisches Realzinsniveau (als Differenz aus Nominalzins und Inflation) veranlasst internationale Kapitalanleger die nun attraktiveren Renditechancen im Ausland wahrzunehmen, die ein höheres Realzinsniveau aufweisen.

Die daraus resultierende geringere Nachfrage der heimischen Währung schwächt den Wechselkurs. Mit einer schwachen Währung wiederum sind die inländischen Produkte wettbewerbsfähiger, sodass sich die Exporte erhöhen und die Importe vermindern. Dieser Kanal wirkt ebenfalls positiv auf die Inflation und das Wirtschaftswachstum.

Auch wenn die vorige Argumentation auf einer Reihe von vereinfachenden Annahmen beruht, lassen sich die Grundpfeiler einer „vernünftigen Geldpolitik in Normalzeiten“ ableiten.

In einem Umfeld niedriger Wachstumsraten kann eine expansive Geldpolitik (Zinsreduktion) helfen, das Wirtschaftswachstum und die Inflationsrate zu steigern, während bei zu hoher Inflation eine restriktive Geldpolitik (Zinserhöhung) zu empfehlen ist. Entsprechend wägt die US-Notenbank FED bei ihren Entscheidungen zwischen Auswirkungen auf die Preisniveaustabilität einerseits und auf den konjunkturabhängigen Arbeitsmarkt andererseits ab. Die Geldpolitik muss die spezifischen Probleme identifizieren und auf die aktuelle wirtschaftliche Lage eines Landes abgestimmt sein.

Erstaunlich sind vor diesem Hintergrund die Entwicklungen in der Türkei

Ähnlich wie in den meisten Teilen der Welt hat die Pandemie auch dort inflationstreibend gewirkt. Die Gründe sind in der

  • Auflösung der temporär höheren Sparquote während des Lockdowns,
  • in krisenbedingten Lieferengpässen und
  • in dem starken Anstieg der Energierohstoffpreise zu finden.

Über Zweitrundeneffekte, wie einer möglichen Lohn-Preis-Spirale, können sich diese temporären Effekte in einer anhaltend hohen Inflation manifestieren. Da die Inflation schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie auf einem beachtlichen Niveau war (2020: 12,18%, 2019: 15,18%) und die genannten Inflationstreiber insbesondere bei der Türkei durchschlagen (z. B. durch die starke Importabhängigkeit von Energierohstoffen), scheint die Preissteigerungsrate außer Kontrolle zu geraten.

Da die Inflation schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie auf einem beachtlichen Niveau war, […] scheint die Preissteigerungsrate außer Kontrolle zu geraten.

Während eine gegensteuernde, restriktive Geldpolitik in einer solchen wirtschaftlichen Phase alternativlos erscheint, hat die türkische Zentralbank gänzlich unkonventionell reagiert und den Leitzins in vier Schritten von 19% im Frühjahr 2021 auf zuletzt 14% gesenkt.

Türkische Zentralbank: Ein Erfolg dieser Strategie bleibt bisher aus

Die Inflationsentwicklung wurde weiter befeuert (48,69 % im Januar) und die Lira verlor in einem historischen Ausmaß von knapp 40% an Wert gegenüber dem USD-Dollar im Zeitraum Januar bis Mitte Dezember 2021.

Die damit verbundenen Probleme sind vielfältig. Vor allem verarmt die Bevölkerung, weil sich die Ausgaben verteuern und die Einkommen sowie die Ersparnisse durch die Inflation deutlich an Wert verlieren. Viele Türken flüchten daher in andere Anlageformen, die besser vor der Inflation und der schwachen Währung geschützt sind.

Knapp die Hälfte ihrer Ersparnisse sind in Devisen und Gold angelegt.

Außerdem ist das Land zu einem hohen Ausmaß in ausländischen Währungen verschuldet. Die kurzfristige Auslandsverschuldung des Staates, der Banken und der Unternehmen ist zur Hälfte in US-Dollar und zu einem Viertel in Euro denominiert. Schwächt sich die Lira ab, fällt es der Türkei schwerer, diese Schulden aus der eigenen Wirtschaftskraft heraus zu bedienen. Zusätzlich verteuern sich die Importe für türkische Unternehmen signifikant.

Sofern die Importe schlecht substituierbare Inputfaktoren sind, wirkt sich dies negativ auf die heimische Produktion aus. Dies kann auch exportorientierte Unternehmen treffen, die eigentlich von der höheren Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte profitieren. Das unsichere Umfeld schreckt zudem internationale Investoren ab.

Doch warum wurde diese kontraintuitive geldpolitische Strategie gewählt?

Der Versuch, diese Frage rein wirtschaftspolitisch schlüssig zu beantworten, scheitert. Die Aussage von Präsident Erdogan, durch Zinsreduktionen die Inflation bekämpfen zu wollen, ist schlichtweg nicht nachzuvollziehen. Des Weiteren ist das Vorhaben, durch niedrigere Zinsen das Wachstum anzuregen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, nicht auf die tatsächlichen Probleme der türkischen Wirtschaft abgestimmt.

Die negativen Effekte, wie im vorigen Absatz dargestellt, überwiegen eindeutig. Vielmehr scheinen politische Interessen der untypischen Strategie zugrunde zu liegen. Erdogan hat sich nicht nur als „Zinsgegner“ bezeichnet, sondern an diese Position auch den „ökonomischen Befreiungskrieg“ geknüpft, um der Bevölkerung „diese Geißel vom Hals zu schaffen“. Zusätzlich seien (hohe) Zinsen laut Erdogan schwer mit dem muslimischen Glauben vereinbar.

Doch hierin liegt genau der Kern des Problems

Die Unabhängigkeit der Geldpolitik dient dem Schutz vor politischer Einflussnahme. Ein starkes Indiz dafür, dass die Zentralbank eben nicht unabhängig handelt, ist der regelmäßige Austausch jener Notenbankchefs, die gegen eine expansivere Geldpolitik votierten.

Nach Mehmet Simsek, der durch seine Wirtschaftskompetenz ein hohes Ansehen innehatte, mussten bereits drei Nachfolger ihr Amt niederlegen, selbst wenn diese zunächst als Vertraute Erdogans galten. Auch der Finanzminister Lütfi Elvan musste jüngst nach nur einem Jahr Amtszeit seinen Posten räumen, sodass Nachfolger Nureddin Nebati Erdogans Kurs stützen kann.

Ein weiteres Indiz zeigt sich in dem Versuch der Zentralbank, zwar die expansive Zinspolitik beizubehalten, jedoch den Wechselkurs durch massive Käufe der Lira zu stabilisieren. Dieses Vorgehen kann allerdings nur zeitweilig aufrechterhalten werden, da die Netto-Devisenreserven, wie auch die Goldreserven, der Zentralbank endlich sind.

Eine neue Maßnahme seitens der türkischen Regierung zielt daher darauf ab, Anleger für Wechselkursverluste der Lira zu kompensieren. Tatsächlich konnte so der Wechselkurs kurzfristig deutlich gestärkt werden (angeblich wurde die Ankündigung mit einer weiteren Devisenmarktintervention flankiert).

Doch auch hierbei stellt sich die Frage der langfristigen Effektivität und Finanzierbarkeit, …

weil die Ursache für den Wechselkursverfall, nämlich die übermäßige Inflationsrate, nicht beseitigt wurde. So wurde das Problem nur von den Sparern auf die Steuerzahler verlagert und bereits nach einigen Tagen hat sich eine erneute Abwertung der Lira eingestellt.


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Der Druck auf die Geldpolitik wächst

In den nächsten Wochen ist durch die unveränderten Ankündigungen und Machtverhältnisse mit keiner geldpolitischen Kehrtwende zu rechnen, insbesondere deswegen, da sich die Währungsschwäche zunächst etwas entspannt hat. Falls gewollt, wird es auch herausfordernd für Erdogan, eine so grundsätzliche und breit kommunizierte Meinung zu revidieren. Mittelfristig werden sich die beschriebenen Probleme weiter intensivieren. Entsprechend wird der Druck auf die Geldpolitik weiter zunehmen.

Dann muss zwischen zwei möglichen Szenarien unterschieden werden:

  1. Erdogan lenkt in der ersten Jahreshälfte 2022 ein und lässt die Zentralbank die Leitzinsen erhöhen, eventuell sogar drastisch im Rahmen eines „Emergency Hikes“. In diesem Szenario könnte eine Umkehr der Entwicklung erreicht werden. Dafür spricht die wirtschaftliche Größe des Landes und die zumindest einigermaßen stabilen Fundamentaldaten.

    Das reale BIP-Wachstum in 2021 wird auf beachtliche neun Prozent prognostiziert. Die Preis- und Wechselkursverwerfungen machen zwar einen schmerzhaften Anpassungspfad, auch mit Wachstumseinbußen, unausweichlich, dennoch sind die strukturellen Schäden wohl noch nicht tief genug, um das Land in eine schwerwiegende Rezession zu stürzen.
  2. Erdogan behält bis zur Wahl in 2023 seinen Kurs bei.
    Grundsätzlich gilt: Je länger das Bremsen ignoriert wird, desto härter wird der Aufprall. In diesem Szenario droht neben einer Rezession zusätzlich eine Schuldenkrise. Die fortschreitende Schwächung der Lira wird die Türkei vor ernstzunehmende Herausforderungen bei der Schuldentilgung stellen. Dies betrifft insbesondere Verbindlichkeiten in fremder Währung mit kurzfristiger Fälligkeitenstruktur, und es sind neben den Staatsschulden ebenfalls die Unternehmensschulden und die der Banken zu beachten.

    Gleichzeitig wird die Aufnahme neuer Schulden nur unter ungünstigeren Bedingungen möglich sein, da die Anleger hohe Risikoprämien verlangen werden. Am Ende dieser Entwicklung könnte der Default, also die Zahlungsunfähigkeit, stehen. Wie wahrscheinlich dieser tatsächlich ist, hängt auch von geopolitischen Faktoren ab.

    Das politische Gewicht der Türkei, unter anderem sichtbar beim Flüchtlingsdeal mit der EU oder durch die Rolle als zweitstärkste militärische Kraft in der NATO, sollte größtmögliche Anstrengungen rechtfertigen, einen derartigen „harten“ Default zu verhindern, beispielsweise durch die Verschiebung von Rückzahlungsfristen.

    Ein weiteres Risiko liegt in dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Institutionen. Ausdruck dessen kann ein Bankansturm oder eine noch tiefere Spaltung der politischen Lager sein, die destabilisierend auf die Wirtschaft wirkt.

Eine schnelle Rückkehr geldpolitischer Vernunft wird entscheidend sein

Andernfalls kann sich die Türkei in einer Lage wiederfinden, in der aufgrund auch einer schlechteren konjunkturellen Lage auch Zinserhöhungen keinen glimpflichen Ausweg mehr darstellen.

Was bedeutet diese Entwicklung für Anleger?

Für risikoorientierte Anleger ergeben sich in einer solchen unsicheren Situation auch Chancen. So lässt sich beobachten, dass internationale Investoren vermehrt türkische Immobilien nachfragen, die aufgrund der schwachen Lira aktuell günstig zu erwerben sind. Demgemäß sind die Immobilienkäufe von Ausländern in der Türkei in 2021 um 43,5 % im Vergleich zum Vorjahr angestiegen.

Auf dem Rentenmarkt versprechen türkische Anleihen attraktive Renditen. Allerdings ist der Anleger hier einem nicht unerheblichen Währungsrisiko ausgesetzt. Der wichtigste türkische Aktienindex, der ISE 100, konnte im vergangenen Jahr trotz der geschilderten Umstände um ca. 26% zulegen. Die Entwicklung wurde getrieben durch die exportorientierten Unternehmen, die tendenziell von der höheren Wettbewerbsfähigkeit im Ausland profitieren und von der Phantasie darauf, dass türkische Unternehmen günstige Übernahmekandidaten geworden sind.

Die Abwertung der türkischen Lira hat jedoch dazu geführt, dass für einen Euro-Anleger die Kursgewinne von den Wechselkursverlusten deutlich überkompensiert wurden und am Jahresende ein Verlust von 25% zu Buche schlug. Aktienanleger sollten deswegen weiterhin Vorsicht walten lassen.

Wir bedanken uns bei unserem Kollegen Niklas Tontara für die tatkräftige Unterstützung zu diesem Beitrag.

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