Ein bislang desaströses Kapitalmarktjahr: Zeit zum Einsteigen?

Das Kapitalmarktjahr 2022 verlief bislang sehr enttäuschend, denn sowohl an den Aktien- als auch an den Anleihemärkten kam es zu starken Kursverlusten. Ist die Zeit schon reif, um die niedrigeren Kurse zum Einstieg zu nutzen?

Die Kapitalmärkte bieten in diesem Jahr ein Bild des Grauens. Egal, ob man sich Aktien- oder Anleihekurse anschaut, fast überall sind seit Jahresbeginn deutliche Kursverluste zu verzeichnen.

  • Globale Aktien gemessen am MSCI World Aktienindex für Industrie- und für Schwellenländer haben jeweils mehr als 17 Prozent an Wert eingebüßt, wobei Technologiewerte mit einem Minus von durchschnittlich 25 bis 30 Prozent zu den Hauptverlierern gehören.
  • Mit langlaufenden Staatsanleihen aus Deutschland und aus den USA musste man Verluste von zehn bzw. zwölf Prozent hinnehmen.
  • Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum liegen seit Anfang Januar rund 40 Prozent unter Wasser.
  • Und selbst der Goldpreis – eine typische Krisenwährung – ist seit Jahresbeginn kaum vom Fleck gekommen.

Die Ursachen für die fallenden Kurse sind vielfältig

Zunehmende Konjunktursorgen, der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, Chinas Null-Covid-Politik, hohe Inflationsraten und die restriktivere Geldpolitik der Notenbanken spielen die Hauptrolle. Nach den bislang schlechten Ergebnissen, die das bisherige Kapitalmarktjahr 2022 verursacht hat, stellt sich die Frage, wie es weitergeht.

Ist der Boden bei den Kursen schon erreicht, oder welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich die Perspektiven wieder verbessern?

Unsere Checkliste für das weitere Vorgehen:

1. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen

Von den optimistischen Konjunkturprognosen zu Jahresbeginn ist nicht viel übrig geblieben. Der Internationale Währungsfonds hat seine Wachstumsprognosen für die Weltwirtschaft für dieses Jahr von 4,4 auf 3,6 Prozent und für 2023 von 3,8 auf 3,6 Prozent nach unten revidiert. Dies dürfte aber für beide Jahre noch zu optimistisch sein, da wir sowohl für die Industrie- als auch für die Schwellenländer von einer stärkeren Konjunkturabschwächung ausgehen.
In Deutschland und der Eurozone haben wir es schon jetzt mit einer Stagflation zu tun, also einem stagnierenden Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig hohen Preissteigerungsraten. Frühindikatoren wie das Ifo Geschäfsklima oder die Umfragen vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) oder vom Analysehaus Sentix signalisieren zudem ein stark erhöhtes Rezessionsrisiko.
Ein Lichtblick stellt bislang einzig die Verfassung der US-Wirtschaft dar, die von ihrer geringen Außenhandelsabhängigkeit sowie der nahezu erreichten Vollbeschäftigung profitiert.

Fazit: Solange die wirtschaftlichen Risiken dominieren ist eine nachhaltige Erholung des Aktienmarktes unwahrscheinlich. Anleger achten als (Wieder-) Einstiegssignal auf Verbesserungen bei den Frühindikatoren. Verbessert sich beispielsweise der Ifo-Index drei Mal in Folge und/oder erreicht er wieder den Schwellenwert von 95 Punkten, ist dies ein recht zuverlässiges Signal für eine Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds.

2. Russland-Ukraine-Krieg

Nachdem der russische Präsident Putin seine Kriegsziele nicht erreicht hat, droht nun eine langwierige kriegerische Auseinandersetzung. Ein möglicher „Abnutzungskrieg“ könnte dazu führen, dass die Kapitalmärkte diesem Konflikt immer weniger Aufmerksamkeit schenken und er als Belastungsfaktor in den Hintergrund rückt.

Die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine erhöht zwar das Risiko einer direkten Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO, es dürfte jedoch bei verbalen Drohgebärden Moskaus bleiben. Die Aussichten auf einen Friedensschluss werden von uns in absehbarer Zeit als genauso gering eingestuft wie die Möglichkeit einer Ablösung Putins, zumal niemand weiß, welche politischen Ziele ein anderer russischer Präsident verfolgen würde.

Fazit: Keine Lösung in Sicht. Anleger achten auf weitere Sanktionen des Westens und auf russische Gegenmaßnahmen. Ein Ende russischer Gaslieferungen nach Westeuropa ist ein ökonomisches Worst-Case-Szenario, das das Rezessionsrisiko deutlich erhöhen würde.


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3. Chinas-Covid-Nulltoleranzpolitik

Die politische Führung in Peking hält trotz vieler gegenteiliger Vorschläge (beispielsweise der WHO) an ihrer Vorgehensweise fest, Großstädte und wichtige Wirtschaftszentren wie Schanghai komplett abzuriegeln, wenn bei Bewohnern das Coronavirus nachgewiesen wurde. Schätzungen zufolge sind derzeit etwa 375 Millionen Menschen in etwa 45 Städten von Lockdown-Maßnahmen betroffen. Dies wird die wirtschaftliche Dynamik Chinas im zweiten Quartal deutlich bremsen, sodass der Konsum, aber auch Ex- und Importe sinken werden.

Für die Lieferkettenprobleme ist diese Entwicklung ein zweischneidiges Schwert: Einerseits führen eine geringere Produktion und ein geringerer Außenhandel dazu, dass die hohen Transportkosten sinken und sich die Staus vor und in den Häfen reduzieren. Andererseits werden wichtige Vorleistungsgüter nicht produziert und verschifft, sodass sich die Lieferengpässe verschärfen und der Preisruck weiter zu-nimmt.

Fazit: Chinas Corona-Politik setzt die Globalisierung unter Druck, da Unternehmen weltweit immer stärker die Nachteile der „Just-In-Time-Produktion“ zu spüren bekommen. Eine Abkehr von der Globalisierung und eine Hinwendung zu mehr Lagertätigkeit bedeuten langfristig höhere Kosten (mehr Inflation) und eine geringere Produktivität (weniger Wachstum). Anleger behalten etwaige Lockerungen bei den Lockdowns sowie ein mögliche expansivere chinesische Geld- und Fiskalpolitik als Reaktion auf schwächere Wirtschaftsdaten im Blick.

4. Inflation und Anleihenmärkte

Gekommen um zu bleiben, dies scheint das Motto der hohen Preissteigerungsraten zu sein. Selbst die Europäische Zentralbank geht als letzter Mohikaner nicht mehr von nur einem temporären Problem aus, das sich auf der Zeitachse von allein löst. Denn im Unterschied zu den letzten Jahren, in denen ein Anstieg der Inflation eigentlich immer und allein auf höhere Energiepreise zurückzuführen war, verzeichnen mittlerweile alle Preiskomponenten des Warenkorbes einen deutlichen Anstieg. Zudem ist die Gefahr einer Lohn-Pries-Spirale, die zu einer Verfestigung der Inflation führen kann, so groß wie seit langem nicht mehr. Selbst Ende dieses Jahres dürften die Preissteigerungsraten noch bei mindestens fünf, eher sogar bei sechs Prozent liegen, und ein Rückgang auf zwei Prozent im nächsten Jahr ist sehr unwahrscheinlich.

Die Notenbanken sind von daher gezwungen, die Zinsen zu erhöhen. In den USA wird die Federal Reserve den Leitzins auf bzw. über das von ihr veranschlagte, „neutrale“ Niveau von etwa 2,5 Prozent erhöhen. An den Fed-Funds-Futures ist zu erkennen, dass bis Sommer nächsten Jahres mit einem Leitzins von rund drei Prozent der Weg zu einer restriktiveren Geldpolitik abgeschlossen sein soll.

Uns würde es aber nicht wundern, wenn der „neutrale“ Zins oder der Zielwert für den Leitzins eher bei vier Prozent liegt. In diesem Fall würden auch die Kapitalmarktrenditen weiter ansteigen. Für die EZB ist die Aufgabe dagegen ungleich komplizierter. Angesichts einer Inflationsrate von 7,5 Prozent liegt es auf der Hand, dass die Geldpolitik restriktiver werden muss. Allerdings ist die Wirtschaft der Eurozone schon angeschlagen und die weitere Finanzierung der hohen Staatsverschuldung einiger Länder bereitet der Notenbank sicherlich auch Kopfzerbrechen. Mehr als drei Zinserhöhungen von jeweils 25 Basispunkten in diesem und drei weitere im nächsten Jahr sind aus unserer Sicht deshalb nicht zu erwarten. Doch auch dies könnte zunächst zu weiteren Kursverlusten bei Anleihen führen.

Fazit: Die Inflation erweist sich als hartnäckiger als gedacht. Selbst wenn mittlerweile der Höhepunkt der Inflationsentwicklung erreicht sein sollte, ist das Problem damit noch lange nicht gelöst. Anleger achten auf das Wording der Notenbanken und auf mögliche Überraschungen bei der Inflationsentwicklung. Die gute Nachricht: Die hohen Kursverluste, die Staats- und Unternehmensanleihen in diesem Jahr verzeichnen, sind Buchverluste, die sich aber wieder nach und nach reduzieren, solange der Emittent seinen Zinsverpflichtungen nachkommt und nicht Pleite geht. Zudem erhalten Anleger mittlerweile wieder einen Zins, den sie in den vergangenen Jahren vergeblich suchten. Bei Zukäufen auf Qualität und noch auf eine kurze Duration achten. Mutige bauen an schwachen Tagen kleine Positionen mit längeren Restlaufzeiten auf: 10-jährige Bunds oberhalb von einem Prozent, 10-jährige US-Treasuries oberhalb von drei Prozent.


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5. Aktienmärkte, Unternehmensgewinne und Bewertungen

An den Aktienmärkten haben die Kursverluste zu einem deutlichen Rückgang der Bewertungen geführt. Deutsche und europäische Aktien sind mit Kurs-Gewinn- Verhältnissen von 11,5 und 12,5 mittlerweile günstiger bewertet als dies im historischen Durchschnitt der Fall ist. Allerdings gilt dies nicht für US-Aktien: Der S&P 500 weist ein KGV von etwa 17 auf (Durchschnittswert beträgt 15,6), der Nasdaq 100-Index ist mit 22,5 auch immer noch teurer als es im Mittel seit dem Jahr 2003 der Fall ist (20,0).

Auch wenn die Aktienmarktbewertungen schon recht attraktiv aussehen, sollte man zwei Dinge beachten: Trotz der vielfältigen Risiken gehen die Unternehmen bzw. die Unternehmensanalysten von weiter steigenden Rekordgewinnen aus. So sollen die DAX-Gewinne beispielsweise dieses Jahr um fünf und nächstes Jahr um zehn Prozent ansteigen.

In unsicheren Zeiten wie diesen kann man sich jedoch weniger auf Kennzahlen zur Ertragskraft von Unternehmen verlassen, da man nicht weiß, ob es sich bei den Gewinnen vielleicht um „Peak Earnings“ handelt, die in nächster Zeit nach unten revidiert werden müssen. Sollten sich die erwarteten Gewinnsteigerungsraten dagegen doch als nachhaltig erweisen, so vor allem deshalb, weil es den Firmen gelingt, ihre Kosten zu überwälzen und damit ihre Gewinnmargen stabil zu halten oder sogar zu erhöhen.

So erfreulich dies aus Unternehmenssicht ist, so negativ ist dies aus makroökonomischer Perspektive: Haben Unternehmen viel Preissetzungsmacht, bedeutet dies auch, dass die Inflationsraten sehr hoch bleiben werden – und eine dementsprechende Reaktion der Notenbanken erforderlich ist.

Genau dies ist derzeit unsere größte Sorge: Nicht dass es in absehbarer Zeit zu einer schweren wirtschaftlichen Krise, also zu einer Rezession, kommt, sondern dass die Notenbanken die Zinsen deutlich erhöhen werden und deswegen die Liquidität, die die Aktienmärkte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten angetrieben hat, versiegt. Schlagwörter, die das Börsengeschehen lange dominiert haben, wie „TINA“ (there is no alternative), „FOMO“ (fear of missing out) oder „Buy the Dip“ könnten deswegen für eine gewisse Zeit aus der Mode kommen.

Fazit: Da die Risiken für die Aktienmärkte hoch bleiben, halten wir eine weitere Reduzierung der Aktienquote, auch auf dem mittlerweile niedrigeren Kursniveau, für vertretbar. Angesichts der schlechten Stimmungslage und der technischen Konstellation eines überverkauften Marktes ist kurzfristig eine kräftige Kurserholung wahrscheinlich, dennoch dürfte die Durststrecke noch nicht vorbei sein. Anleger nutzen diese zum Abbau vor allem von hoch bewerteten und unprofitablen Unternehmen und stellen ihr Portfolio breiter auf. Entspannungssignale im Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen zu besseren Konjunkturerwartungen und beeinflussen die Gewinnerwartungen positiv. Wichtigster Einflussfaktor ist aber die internationale Geldpolitik. Signale der US-Notenbank, die Zinsen weniger stark zu erhöhen als erwartet, können zu einer Trendwende und zu nachhaltig steigenden Kursen führen.

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Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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