ESG-Investing: Gut für das Gewissen oder gut für die Welt?

Wenn es in den letzten Jahren im Asset Management einen großen Megatrend gab, dann war (und ist) es der Trend hin zu nachhaltigem Investieren. Dafür lassen sich vermutlich drei wesentliche Gründe benennen.

So fragen Investoren vermehrt nach nachhaltigen Investmentlösungen, da ihnen das Thema deutlich mehr am Herzen liegt als vorherigen Generationen von Investoren. Gleichzeitig führen Veränderungen in der Regulatorik (vor allem in Europa) zu einem zunehmenden Umdenken und einer deutlichen Bewegung hin zu nachhaltigen Portfoliostrukturen. Nicht zuletzt lässt sich mit nachhaltigem Investieren aber auch gutes Geld verdienen – viele Asset Manager bepreisen nachhaltig verwaltete Vermögen etwas höher und generieren damit zum Teil höhere Margen, was wiederum die gesteigerten Vertriebsaktivitäten in diesem Bereich erklären dürfte.

Nun könnte man erst einmal vermuten, dass das eine Win-Win-Situation ist. Die Kunden fühlen sich mit nachhaltigen Investments gut, der Regulator kann wohlwollend beobachten, dass die Geldströme in eine „grüne“ Richtung fließen und für die Asset Manager lohnt sich das nachhaltige Geldanlegen auch.

Aber ist tatsächlich alles so perfekt, wie es auf den ersten Blick erscheint?

Zweifel sind angebracht. Während beispielsweise der CO2-Fußabdruck von Portfolios börsennotierter Unternehmen seit Jahren abnimmt, hat sich die Wachstumsrate der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zuletzt deutlich beschleunigt. Dafür mag es viele Erklärungsansätze geben – richtig zufriedenstellend sind diese aber alle nicht. Und wenn Asset Manager einen Schwerpunkt auf Governance-Themen legen (also das „G“ in ESG berücksichtigen), strafen sie oft einzelne Unternehmen ab, obwohl die Probleme eigentlich sehr offensichtlich nicht unbedingt bei den Unternehmen selbst liegen, sondern in den unzureichenden und zuweilen kaum tolerierbaren staatlichen Rahmenbedingungen von Ländern, in denen die betroffenen Unternehmen ihre Standorte haben.

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Kritische Stimmen nehmen zu

Seit einiger Zeit nimmt daher die Zahl der Mahner zu, die darauf hinweisen, dass ein differenzierter Blick auf die Thematik angebracht erscheint. Ein besonders prominenter Mahner ist in diesem Zusammenhang beispielsweise Tariq Fancy, der ehemalige ESG-Chef vom weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock.

Sein Vorwurf ist vergleichsweise massiv:

Er hält es für möglich, dass nachhaltige Investments in der Realität im schlimmsten Fall sogar die Welt eher verschlechtern als verbessern, da von ihnen ein gefährlicher Placebo-Effekt ausgehe:

Alle fühlten sich durch nachhaltige Investments besser, während in der realen Welt so gut wie nichts passiert.

Dadurch würden eher die zentralen Schritte unterlassen, die tatsächlich notwendig wären, um Veränderungen zu bewirken. Aus seiner Sicht ist der Kapitalmarkt mit dieser Aufgabe letztlich zu einem gewissen Grad überfordert. In einem Interview mit der NZZ brachte er diesen Sachverhalt vergleichsweise prägnant auf den Punkt:

„Darum halte ich [nachhaltiges Investieren] für ein gefährliches Placebo. Viele Anleger verstehen auch nicht, dass es dem Planeten wenig bringt, nicht nachhaltige Anlagen einfach zu verkaufen. Das Einzige, was man mit einer Desinvestition bewirkt, ist, dass andere Investoren diese Wertpapiere günstig erwerben und damit einen Profit erzielen können. Irgendjemand wird die Aktien immer kaufen. An den CO2-Emissionen hat sich nichts geändert. So funktioniert der Finanzmarkt. Letztlich ist das auch mit ein Grund, weshalb junge Leute ihre Hände an die Straßen kleben.“

https://www.nzz.ch/finanzen/ich-zweifle-ob-es-klug-ist-new-yorker-bankern-das-schicksal-des-planeten-anzuvertrauen-sagt-der-ehemalige-blackrock-topmanager-tariq-fancy-ld.1739602

Ist diese Argumentation stichhaltig?

Zunächst einmal stimmt es, dass ein Verkauf eines Wertpapieres nur zu einem Eigentümerwechsel führt. Dem Unternehmen ist es zudem weitgehend egal, wer eine Aktie oder eine Anleihe hält. Eine Umstrukturierung von Portfolios hat also dementsprechend zunächst einen Impact von exakt Null. Protagonisten des ESG-Investings argumentieren jedoch etwas subtiler: Zwar wird auch dort nicht bestritten, dass Verkäufe nicht ESG-konformer Wertpapiere zunächst keinen Einfluss im tatsächlichen Leben entfalten. Jedoch führen diese Verkäufe – so die Hoffnung – zu Preissignalen: Wenn genug Investoren die „kritischen“ Wertpapiere verkaufen, dann fallen die Kurse dieser Wertpapiere. Das wiederum erhöht mittelfristig die Kapitalkosten dieser Unternehmen. Dadurch werden Kapitalströme eher in „grüne“ Unternehmen gelenkt, während weniger „grüne“ Unternehmen im Idealfall von Kapitalströmen abgetrennt werden. Aber auch an dieser Argumentation regt sich Widerstand, denn es stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ideal ist, wenn gerade die Unternehmen in der Refinanzierung ein Problem bekommen, die eigentlich den größten Transformationsbedarf aufweisen.

Denn der größte positive Hebel auf Veränderungen geht von den Unternehmen aus, die am wenigsten ESG-konform arbeiten. Gerade hier kann mit frischem Eigen- und Fremdkapital besonders viel Positives bewegt werden.

Daher erscheint die Argumentation, die über Allokationseffekte eine positive Wirkung in der Realwirtschaft erzielen will, auf einen zweiten Blick nicht mehr ganz so überzeugend. Aber die ganze Argumentationskette ist sogar noch ein wenig vertrackter, denn Unternehmen agieren ja nicht komplett unbedarft. Gerade Unternehmen, die sich in ESG-kritischen Wertschöpfungsketten bewegen, wissen natürlich genau um die Problematik steigender Kapitalkosten.

Sie stehen dabei letztlich vor zwei Alternativen.

Die eine Alternative besteht darin, trotz steigender Kapitalkosten in Transformationsprozesse zu investieren und somit Verantwortung zu übernehmen. Die andere Alternative besteht darin, Kapitalkosten zu senken, indem Verantwortung delegiert wird. Dies wiederum geschieht einfach dadurch, dass die „dreckigen“ Teile der Wertschöpfung an nicht-börsennotierte Unternehmen meist im Ausland verkauft werden – i.d.R. in Länder, in denen ESG-Themen keine große Rolle spielen. Damit wird die Lage in der Realität meist noch deutlich schlechter, für das betroffene Unternehmen jedoch besser. Denn man kommt auf diese Weise aus den negativen Schlagzeilen, kann sich als zunehmend „grünes“ Unternehmen positionieren und profitiert zu allem Überfluss auch noch von wieder steigenden Kursen in Wertpapieren sowie fallenden Kapitalkosten. Tatsächlich ist diese vorgebrachte Logik nicht ganz von der Hand zu weisen, und es besteht wohl wirklich die nicht ganz auszuschließende Gefahr, dass ESG-Investing nicht die erhofften Effekte in der Realität erzielt und damit ein Placebo-Effekt vom nachhaltigen Investieren ausgeht, der langfristig kontraproduktiv wirken könnte.

Die oft übersehene ethische Komponente

Sollte man deshalb auf nachhaltiges Investieren verzichten? Wir denken nicht, dass das der Fall ist.

Allein schon aus ethischen Gesichtspunkten ist jeder Investor aufgerufen, stets zu hinterfragen, ob er Wertzuwächse und Geldflüsse wie Dividenden und Zinsen mit einer Wertschöpfung erzielen möchte, die ethisch fragwürdig ist.

Diese Frage muss allerdings jeder Investor am Ende für sich alleine entscheiden; hier hilft keine Regulatorik, und ESG-Scores nutzen hier nur begrenzt, da jeder Investor sein eigenes ethisches Koordinantensystem haben dürfte und sich kaum ein Anleger vorschreiben lassen wird, nach welchen ethischen Prinzipien er zu handeln hätte.

Jeder ESG-orientierte Investor sollte sich aber bewusst sein, dass er allein durch sein Investieren vermutlich noch keinen ernsthaft positiven Fußabdruck auf der Erde hinterlässt.

Am Ende dürfte der Kapitalmarkt damit überfordert sein, als „Schiedsrichter“ aufzutreten und Kapitalströme unter ESG-Gesichtspunkten endogen in die richtigen Bahnen zu lenken. Letztlich ist es auch und vor allem Aufgabe von Staaten, global geltende Mindeststandards für die Produktion zu definieren, Emissionshandelssysteme zu implementieren, negative externe Effekte zu besteuern und unter ESG-Aspekten günstige Formen des Wirtschaftens mit Anreizen zu versehen.

Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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