Die schleichende Strategiewende der EZB: Eine Analyse

Die Verträge von Maastricht sehen vor, dass die Aufgabe der EZB in der Einhaltung der Geldwertstabilität liegt. Wenn man diese Aufgabe wörtlich nimmt, läuft dies auf eine anzustrebende Inflationsrate von null Prozent hinaus. Praktische Erwägungen sprechen jedoch dagegen, dieses Ziel tatsächlich in dieser Radikalität zu verfolgen. Denn eine Inflationsrate von exakt null Prozent kann im Zeitverlauf unmöglich erreicht werden. Viele Notenbanken (auch die EZB) haben das Ziel der Geldwertstabilität in der Praxis so uminterpretiert, dass man eine Inflationsrate von bis zu zwei Prozent toleriert, um einerseits eine Deflation zu vermeiden, andererseits aber trotzdem einen hinreichend stabilen Geldwert sicherzustellen.
Welche Folgen eine expansive Geldpolitik haben könnte, erfahren Sie in diesem Beitrag.

Während die deutsche Inflation Rekordstände erklimmt, ist die Inflation in Italien zuletzt von 1,0% auf fast schon lethargische 0,9% zurückgegangen. Die EZB wird dies als Bestätigung sehen, den sehr expansiven geldpolitischen Kurs über eine sehr lange Zeit weiter zu verfolgen, um auch Ländern wie Italien eine Chance zu geben, deflationären Tendenzen dauerhaft zu entgehen.

Gleichzeitig führt die stark steigende Geldmenge sowie die überbordende Liquidität in der Eurozone vor allem in Deutschland zu einem hohen nominalen BIP-Wachstum und erhöht damit perspektivisch die Disparität zwischen nördlichen und südlichen Ländern des Währungsraumes. Dabei benötigen gerade Länder wie Italien ein hohes nominales Wirtschaftswachstum, um eine drohende Überschuldung zu verhindern.

Früher hätte diese ökonomische Konstellation zu einer Abwertung der italienischen Lira geführt – diese Option besteht nun nicht mehr. Damit wird eine dauerhafte Transfer- und Schuldenunion ein immer wahrscheinlicheres Szenario. Überhaupt hat man den Eindruck, dass die EZB langsam in ein neues geldpolitisches Regime überzugehen scheint, das am Ende eher politischen Zielen verpflichtet ist. So unerfreulich dies aus ordnungspolitischer Sicht auch sein mag; für Aktienmärkte muss diese Entwicklung zunächst nicht zwangsläufig schlecht sein.

Tendenz einer verstärkten Deflation zu beobachten

Die Verträge von Maastricht sehen vor, dass die Aufgabe der EZB in der Einhaltung der Geldwertstabilität liegt. Wenn man diese Aufgabe wörtlich nimmt, läuft dies auf eine anzustrebende Inflationsrate von null Prozent hinaus. Praktische Erwägungen sprechen jedoch dagegen, dieses Ziel tatsächlich in dieser Radikalität zu verfolgen. Denn eine Inflationsrate von exakt null Prozent kann im Zeitverlauf unmöglich erreicht werden; wer jedoch im Durchschnitt eine Inflationsrate von null Prozent anstrebt, muss temporär auch eine Inflationsrate von unter null Prozent akzeptieren.

Damit begibt man sich aber in den volkswirtschaftlich ungünstigen Bereich der Deflation, in der Konsumenten ihren Konsum und Unternehmen ihre Investitionen reduzieren, da davon auszugehen ist, dass die Anschaffungen in Zukunft noch billiger erfolgen können als aktuell. So entwickelt sich eine ungünstige Tendenz, in der rückläufige Konjunkturdaten die Deflation verstärken und dies wiederum die Konjunkturdaten schwächt.

Ziel der Geldwertstabilität: statt null Prozent werden zwei Prozent Inflationsrate angestrebt und toleriert

Aus diesem guten Grund haben viele Notenbanken (auch die EZB) dieses Ziel der Geldwertstabilität in der Praxis so uminterpretiert, dass man eine Inflationsrate von bis zu zwei Prozent toleriert, um einerseits eine Deflation zu vermeiden, andererseits aber trotzdem einen hinreichend stabilen Geldwert sicherzustellen.

Dieses asymmetrische Ziel wurde nun zunächst von der US-Notenbank und jetzt auch von der Europäischen Zentralbank zu einem symmetrischen Ziel abgewandelt. Damit werden nun nicht mehr Inflationsraten von bis zu zwei Prozent toleriert, sondern im Durchschnitt von zwei Prozent angestrebt.

Was sich zunächst wie eine kleine semantische Veränderung anhört, die für die Praxis keine große Relevanz hat, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als echter Wendepunkt der Geldpolitik.

Denn während bei einem asymmetrischen Ziel bisher sehr klar war, dass eine Inflationsrate in der Nähe von zwei Prozent zu einem baldigen Handeln der Notenbank führen würde, ist nun gar nichts mehr klar. Seit 2013 lag die Inflationsrate in der Eurozone fast immer unter zwei Prozent. Auch aktuell liegt die Inflationsrate trotz hoher Energiepreise, extremer Knappheiten bei vielen Vorprodukten und einer Corona-bedingten aufgestauten Nachfrage bei nur 2,2 Prozent. Damit könnte nun die Inflationsrate durchaus für einen sehr langen (und nicht gut zu definierenden Zeitraum) über zwei Prozent liegen, ohne dass das Ziel einer durchschnittlichen Inflationsrate von zwei Prozent mathematisch verletzt würde.

Betreiben Notenbank fortan eine scheinbar unlimitierte Geldpolitik?

De facto hat sich damit die Notenbank selbst einen Blankoscheck ausgestellt, für eine nahezu unbestimmte Zeit eine weitgehend unlimitierte Geldpolitik betreiben zu können. Die jüngsten Äußerungen verschiedener EZB-Direktoren können daran keinen Zweifel lassen. So hat Fabio Panetta vor wenigen Tagen in einem Interview tatsächlich gefordert, die Wirtschaft „heißlaufen“ zu lassen und dabei eine Lohn-Preis-Spirale zu akzeptieren.

So hört sich kein Notenbanker an, der sich um eine zu expansive Geldpolitik Sorgen macht. Ähnlich argumentiert der EZB-Direktor Mārtiņš Kazāks, der eine Diskussion über eine Rückführung des PEPP-Anleihenaufkaufprogramms für verfrüht hält.

Und jetzt wird es interessant.

Denn eine superexpansive Geldpolitik, so wie sie seit einiger Zeit betrieben wird und uns wohl noch viele Jahre begleiten wird, hat nicht in allen Volkswirtschaften die gleichen Effekte. Ob die überbordende Liquidität überhaupt und wenn in welchem Umfang Eingang in die Realwirtschaft findet, hängt von den jeweiligen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab.

Der deutsche Wirtschaftsminister Karl Schiller hat dies einmal in einem fast schon legendären Zitat zusammengefasst, als er sagte: „Man kann die Pferde zur Tränke führen, aber saufen müssen sie schon selbst“. Die Situation ähnelt in gewisser Weise einem Krankenhaus, in dem zwei Patienten mit einer gleichen Krankheit die gleiche Infusion verabreicht wird, aber der Patient mit dem besseren Allgemeinzustand die schnelleren Behandlungserfolge zeigt.

Mögliche Entwicklung: Inflationsraten in der Eurozone

Und so kann es auch nicht überraschen, dass Länder wie Deutschland derzeit eine höhere Inflationsrate aufweisen als Länder wie Italien, obwohl die Geldpolitik der EZB überall ähnlich expansiv wirken müsste. Daher gehen wir davon aus, dass auch in den kommenden Jahren die Inflationsraten im Norden der Eurozone im Durchschnitt eher über den Inflationsraten im Süden der Eurozone liegen werden.

Nun könnte man das mit einem gewissen Schulterzucken zur Kenntnis nehmen, doch so einfach ist die Sache nicht. Schließlich hat die EZB einen Grund, ihr Inflationsziel aufzuweichen und eine superexpansive Geldpolitik zu betreiben.

Der wahre Grund – davon sind wir überzeugt – liegt darin, Ländern wie Italien auch langfristig die sichere Refinanzierung der Staatsverschuldung zu ermöglichen und über eine höhere Inflation die realen Schulden Stück für Stück zu reduzieren oder zumindest zu stabilisieren.

Die Folgen der expansiven Geldpolitik

Dummerweise führt die expansive Geldpolitik der EZB aufgrund ihrer asymmetrischen Wirkung aber ausgerechnet in den Ländern zu höheren Inflationsraten, wo sie nicht unbedingt gebraucht werden. Und dort, wo die höheren Inflationsraten hilfreich wären, steigen sie nicht genug an. Damit vergrößert die expansive Geldpolitik die ohnehin schon bestehende ökonomische Lücke zwischen dem Norden und dem Süden.

Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma?

Ja – mit der Einführung einer Transfer- und Schuldenunion. Übertragen auf das Krankenhausbeispiel bedeutet dies, dass der Patient mit der schnelleren Genesung dem kränkeren Patienten Blut spendet. Was im Krankenhaus eine etwas unkonventionelle Lösung wäre, wird in der EU gerade vorbereitet. Es gibt Bestrebungen, den Stabilitätspakt abzuschaffen oder zu modifizieren (siehe Interview von Fabio Penetta mit „la Repubblica“), und der 750-Mrd.-Corona-Fonds ist technisch betrachtet eigentlich nichts anderes als der Einstieg in eine Transfer- und Schuldenunion.

Wozu führt diese Entwicklung? Zunächst einmal ergibt sich eine ganze Menge Frust-Potenzial in der Bevölkerung, da es perspektivisch keinen direkten Zusammenhang mehr zwischen demokratisch legitimiertem Handeln und der Haftung gibt.

Besonders kritisch könnte das werden, wenn in den Transfer-Empfängerländern populistische Parteien den Ton in den Regierungen angeben und damit eine Politik betreiben, die von der Bevölkerung der Geberländer nicht mitgetragen wird. Daneben wird es für Menschen in den Ländern mit höherer Inflationsrate schwieriger, am Kapitalmarkt für das Alter vorzusorgen, da insbesondere weitgehend sichere Rentenanlagen vor dem Hintergrund künstlich tiefer Zinsen bei gleichzeitig erhöhter Inflation als Investment ausfallen.


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Welche Geldanlage bietet sich bei einer konstant expansiven Geldpolitik der EZB an?

Überhaupt spricht in einer solchen Welt fast alles nur noch für Aktien, denn Aktien sind in ihrem Kursverlauf weitgehend an Gewinne gekoppelt, und die sind eine nominale Größe. Damit bieten Aktien einen recht guten Schutz vor Inflation, zumal trotz höherer Inflationsraten nicht die Gefahr erhöhter Zinsen besteht.

Wer dagegen seine Ersparnisse, aus welchen Gründen auch immer, vornehmlich auf dem Girokonto parkt, wird vor allem in den Ländern mit einer erhöhten Inflationsrate schleichend enteignet. Auch aus einer globalen Perspektive sind die mittel- und langfristigen Aussichten für die Volkswirtschaften der Währungsunion eingetrübt. Denn die zunehmende Entkopplung von Haftung und Handeln dürfte zu einer weniger effizienten Verwendung von Steuergeldern führen, und der künstlich festgezurrte Zins hat negative Auswirkungen auf die Verwendung von Kapital: Da der Zinssatz seine Steuerungs- und Signalfunktion verliert, wird Kapital nicht immer der effizientesten Verwendung zugeführt.

Außerdem überleben in dieser Welt auch Unternehmen, die sonst im Strukturwandel untergegangen werden. Der Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ kommt hier zunehmend zum Erliegen; die Konsequenz besteht in immer mehr Zombie-Unternehmen, die einen immer kleineren Beitrag zur Wohlfahrt von Volkswirtschaften leisten können. Das ist kein rosiges Zukunftsszenario. Es wird trotzdem eintreten, da man als Politiker eigentlich nur verlieren kann, wenn man davor warnt.

Denn damit macht man sich kurzfristig zum „Spielverderber“, der weniger Geschenke verteilen möchte. Wahlen kann man so nicht gewinnen, und daher scheint der Weg in die zuvor skizzierte Welt unumkehrbar. Da zudem die EZB zu einer immer politischer agierenden Institution wird, ist auch nicht davon auszugehen, dass sich die EZB selbst bremsen wird.

Keine Frage, wir sind auf dem Weg in eine andere Währungsunion.

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Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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