Die EZB stellt die Weichen: Vollgas voraus, und das für sehr lange Zeit!

Während Anfang des Jahres noch weitere Zinserhöhungen für 2019 und 2020 kommuniziert wurden, folgte in den anschließenden Monaten ein nahezu beispiellose Kehrtwende in der Kommunikation der Fed. Im Juli 2019, im Anschluss an ihre zweitätige Zinssitzung, hat die Fed die erste Zinssenkung seit 2008 bekannt gegeben und das Ende der Reduktion der Anleihebestände um zwei Monate auf August vorgezogen. Wir werden gerade Zeuge einer bedeutsameren Entwicklung: Die EZB stellt langsam und unauffällig die Weichen, um erneut geldpolitisch Vollgas zu geben – aber nicht nur für ein paar Monate, sondern für eine sehr, sehr lange Zeit.

Nachdem der Zins seit Ende 2015 in insgesamt neun Zinsschritten angehoben wurde, folgte nun die von den Marktteilnehmern erwarteten Senkung um 25 Basispunkte. Damit liegt die Fed Funds Target Rate nun in der Spanne von 2,00 bis 2,25 Prozent.

Nachdem zuerst die Zinserhöhungen vom Tisch genommen wurden, folgte anschließend die Vorbereitung auf einen neuen Zinssenkungszyklus. Dieser wurde nun in diesem Monat eingeläutet. Auch wenn die USA vor allem im Vergleich mit anderen Industrienationen weiterhin ein sehr solides Wachstum ausweist (Q1: +3,1%, Q2: +2,1%), haben vor allem die zunehmenden politischen Risiken und die sich abkühlende Weltkonjunktur die Fed zu diesem Schritt bewegt. Damit will die Fed quasi als „Versicherer“ für einen weiter andauernden Aufschwung auftreten.

Bereits zweimal ist ihr das in der jüngeren Vergangenheit gelungen. Im aktuellen Fall dürften auf den ersten Schritt weitere folgen, wobei Powell hier den Markt etwas enttäuschte:

„Let me be clear, it is not the beginning of a long series of rate cuts“.

Zugleich fügte er hinzu

„I didn´t say it´s just one [rate cut]“.

Am Markt wird aktuell mit ein bis zwei weiteren Zinsschritten in diesem Jahr gerechnet. Damit wird die US-Notenbank ihrem Ruf gerecht, pragmatisch zu handeln, ohne die fundamentalen Daten aus dem Auge zu verlieren. Die Fed hat zudem durch ihre Aussagen erneut bewiesen, dass sie politisch weitgehend unabhängig agiert und auch unter Trump nicht von ihrem geldpolitischen Stil abweicht.

Im Vergleich dazu wird die EZB in der Öffentlichkeit mit deutlich mehr Kritik konfrontiert. Es gehört in gewissen Kreisen schon fast zum guten Ton, unreflektiert auf der EZB herumzuhacken, egal was sie macht. Wir zählten bisher nicht zu diesen Kreisen, und es wäre auch nicht fair gewesen, dies zu tun.

Dabei hat die EZB hat in den letzten Jahren mehrfach ein gutes Fingerspitzengefühl bewiesen und nachvollziehbare geldpolitische Entscheidungen getroffen. Zudem würde es den Euro vielleicht schon gar nicht mehr geben, wenn noch-EZB-Chef Draghi im Sommer 2012 nicht seine inzwischen berühmte „whatever-it-takes“-Rede gehalten hätte. Damals befand sich die Eurozone tatsächlich in einer prekären Situation.

Der Allgemeinheit ist vermutlich bis heute gar nicht klar, was damals auf dem Spiel stand.

So erzählt man sich, dass die Bundesbank damals im Rahmen einer Art „Task Force“ Optionen ausgelotet hat, wie man vorgeht, wenn der eigentlich undenkbare Plan B eintritt und der Euro durch eine neue Währung ersetzt werden müsste. Wer sich heute rückblickend das Video der Rede anschaut, kann an der Körpersprache Draghis förmlich ablesen, welche Dramatik sich damals abspielte.

Der Euroraum – ein optimaler Währungsraum?

So gesehen kann nicht gesagt werden, dass die EZB bisher nicht ihrem Auftrag gerecht geworden sei, Hüterin der europäischen Währung zu sein. Dass es allerdings überhaupt zu solchen signifikanten Schritten kommen musste, sagt viel über den strukturellen Zustand der europäischen Währungsunion aus.

Der Euroraum – alles andere als ein optimaler Währungsraum.

Auch wenn es einen perfekten Währungsraum nie geben wird, ist der Euro davon zumindest aus theoretischer Sicht so weit entfernt, wie man überhaupt entfernt sein kann. Ein optimaler Währungsraum ist geprägt von einer hohen Mobilität des Faktors Arbeit, einer homogenen Wettbewerbsfähigkeit, einer einheitlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie einem weitgehend homogenen Produktivitäts- und Lohnwachstum mit stabilen oder sich homogen bewegenden Lohnstückkosten. Dort, wo das nicht der Fall ist, gleichen interne Wanderungsbewegungen diesen Effekt aus und führen zu neuen Gleichgewichten bei der Bildung von Löhnen. Außerdem verfügt ein optimaler Währungsraum über eine einheitliche Regulatorik sowie ganz klare Regeln, welche Gebietskörperschaft unter welchen Umständen für welchen Schaden haftet. Besteht eine Währungsunion aus mehreren Gebietskörperschaften (was sehr oft der Fall ist, siehe die USA mit ihren Fed-Distriken oder Deutschland zu D-Mark-Zeiten mit den Bundesländern), sollten keine Mechanismen existieren, die einigen Gebietskörperschaften asymmetrisch immer höhere latente Lasten aufbürden können, ohne dass es regelgebundene Ausgleichsmechanismen gibt.

Die EZB im Not-Modus

Vor dem Hintergrund dieses Kriterienkataloges ist es schon fast ein kleines Wunder, dass der Euroraum überhaupt noch besteht. Dazu waren neben der berühmten Rede viele mehr oder weniger unkonventionelle Schritte notwendig, die aber von den Statuten und dem Regelwerk zumindest bei wohlwollender Betrachtung gerade noch eben abgedeckt waren. Inzwischen drängt sich jedoch leider der Eindruck auf, dass die EZB unter dem ständigen Druck des Arbeitens im Not-Modus beginnt, ihre eigene DNA in Frage zu stellen und sich zunehmend neu zu erfinden.

Die Politisierung der Führungsstruktur

Das beginnt mit der schleichenden Politisierung der Führungsstruktur und hört mit der immer weiterreichenden Akzeptanz für hochgradig unkonventionelle Maßnahmen und Sichtweisen noch nicht auf. Beginnen wir mit der zunehmenden Politisierung. Schon in den vergangenen Jahren wurden Führungspositionen in der EZB zunehmend nach politischen Vorgaben besetzt; die Rekrutierung des Personals erfolgte auch zunehmend aus dem politischen Bereich. Der aktuelle Höhepunkt dieses Prozesses ist die geplante Besetzung der EZB-Chefposition durch die ehemalige französische Finanzministerin Christine Lagarde.

Allein der Druck, den Frankreich hinter den Kulissen (und nicht nur dort) aufgebaut hat, um diese Position zu besetzen, lässt für die eigentlich angestrebte Unabhängigkeit nichts Gutes erahnen. Dabei ist die Unabhängigkeit der EZB von politischen Einflüssen eine Urbedingung vieler Mitgliedsländer gewesen, nachdem man in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg gut beobachten konnte, dass erfolgreiche Währungen mit unabhängigen Notenbanken einhergingen, während die Notenbanken weniger erfolgreicher Währungen unter politischem Einfluss standen.

Neu-Definition des Inflationsziels

Kummer bereitet uns auch die in der EZB an Zuspruch gewinnende Sichtweise, dass das Inflationsziel anders definiert werden müsse. Bisher galt bei der EZB das alte Bundesbank-Dogma, wonach die Inflationsrate maximal zwei Prozent betragen dürfe. Nun geht die Diskussion aber in die Richtung, eine durchschnittliche Inflationsrate von zwei Prozent anzupeilen. Aus einem asymmetrischen Ziel (bis zu zwei Prozent, aber nicht mehr) würde ein symmetrisches Ziel (etwas mehr oder weniger als zwei Prozent). Einem ungeübten EZB-Beobachter mag das wie eine Lappalie vorkommen, die nicht weiter kommentiert werden muss. Das ist aber nicht der Fall. Die strukturelle Inflationsrate liegt in der Eurozone definitiv unter zwei Prozent. Das hängt mit dem schwachen BIP-Wachstum und strukturellen Problemen zusammen, aber auch mit globalen Tendenzen und einer international sehr hohen Wettbewerbsintensität, die immer weniger Preisüberwälzungsspielräume zulässt.

Charakterzüge einer monetären Staatsfinanzierung

Das alles führt dazu, dass die Eurozone kaum noch in der Lage ist, Inflationsraten von deutlich über zwei Prozent zu „produzieren“. Wenn nun aber die strukturelle Inflationsrate (deutlich) unter zwei Prozent liegt, muss die EZB eine noch viel aggressivere Geldpolitik als bisher betreiben, um überhaupt im Durchschnitt eine Inflationsrate von zwei Prozent erreichen zu können. Auch wenn es zunächst nicht den Anschein hat: Mit einer solchen Ausrichtung würde sich die EZB einen akademisch verbrämten Freifahrschein ausstellen, um – durchaus politisch motiviert – eine Geldpolitik zu betreiben, die Charakterzüge einer monetären Staatsfinanzierung aufweist. Denn mit diesem Argument ließe sich die Auflage eines erneuten Aufkaufprogrammes von Staatsanleihen leicht rechtfertigen, womit die Renditen von Staatsanleihen auf noch niedrigere Niveaus geprügelt werden können. Und wenn das nicht reicht (oder kaum noch Anleihen vorhanden sind, die man kaufen könnte), wäre der Kauf von Aktien die nächste Eskalationsstufe, um Liquidität in die Volkswirtschaft zu schaufeln. Dass diese Liquidität dort realwirtschaftlich kaum noch etwas bewegt, da der heterogene und in Teilen strukturschwache Währungsraum unter einer sog. Liquiditätsfalle leidet, dürfte primär politisch motivierte Zentralbanker kaum noch interessieren.

EZB stellt Weichen für Vollgas

Vor diesem Hintergrund ist es fast sogar eine kleine Überraschung, dass die EZB heute keine Senkung der Leitzinsen vorgenommen hat. Allerdings wurden durchaus Zinssenkungen für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt – in Kombination mit einem Staffelsystem, um die resultierenden Belastungen für Banken ein wenig abzumildern. Gleichzeitig wurde neuen Anleihekäufen zumindest kommunikationstechnisch der Weg geebnet, obwohl weitere umfangreiche Anleihekäufe bei genauer Betrachtung schon rein technisch kaum noch darstellbar sind. Denn dafür müsste man die bisher gesetzten Regeln brechen, wonach nur ein gewisser Anteil der Anleihen von der EZB gekauft werden kann.

Der Markt hat diesen Schritt aber schon in den letzten Wochen antizipiert; anders wäre der Rückgang der Renditen kaum zu erklären.

Auch die aktuelle konjunkturelle Entwicklung gibt Draghi Rückenwind, um für eine erneute Welle einer hochexpansiven Geldpolitik zu werben. Und tatsächlich sind die Einkaufsmanager vor allem in Europa so schlecht ausgefallen, dass für sich betrachtet eine temporäre geldpolitische Lockerung angebracht wäre. Wir sind allerdings zunehmend der Überzeugung, dass es sich hier nicht um die Vorbereitungen für eine temporäre, zyklisch bedingte geldpolitische Lockerung handelt.

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Bildnachweis: Mathew Henry © unsplash.com
Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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