Chaostage in Großbritannien

Ist sie noch da? Oder doch schon weg? Es geht, wie könnte es in diesen Tagen auch anders sein, um die britische Premierministerin Liz Truss.

Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass die Politik im Vereinten Königreich seit geraumer Zeit einen Eindruck macht, der sich selbst bei wohlwollender Beurteilung nur noch als „vogelwild“ bezeichnen lässt. Man hat den Eindruck, dass es Frau Truss darauf angelegt hat, als Premier mit der kürzesten Amtszeit in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen zu werden (was ihr allerdings nicht gelingen wird).

Während zumindest die Fans von Reality Shows derzeit bei dem, was sich in Westminster und in der Downing Street 10 abspielt, voll auf ihre Kosten kommen dürften, geben die Hauptakteure der britischen Politik für alle anderen am politischen Geschehen Interessierten nur noch ein Bild des Grauens ab.

Oder kurz und knapp zusammengefasst: Die Politik und vor allem das House of Commons (Unterhaus) in Großbritannien laufen Amok.

Die vergangenen britischen Regierungen

Nun haben viele Kontinentaleuropäer (uns eingeschlossen) ohnehin spätestens seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 ein etwas angespanntes Verhältnis zum britischen Polit-Establishment, sodass man Gefahr läuft, vielleicht etwas zu kritisch mit der Politik auf der Insel umzugehen. Immerhin muss man konstatieren, dass die Briten selbst in den letzten Jahren mehrheitlich gar nicht so unglücklich mit ihren Politikern gewesen sind, wie wir es waren. Es kann aber natürlich auch gar nicht anders sein, schließlich hat man diese Politikerinnen und Politiker selbst gewählt und es gilt immer noch die Aussage „jedes Volk bekommt die Regierung, die es verdient“.

Aber wir wollen versuchen, nicht zu polemisch werden, auch wenn es uns schwerfällt. Die Halbwertszeit britischer Regierungen ist jedenfalls seit der Brexit-Entscheidung deutlich gesunken.

  • Nachdem David Cameron im Juli 2016 seinen Hut nahm,
  • kam Theresa May ins Amt. Diese verlor zwar einen sicher geglaubten Sieg bei den vorgezogenen Neuwahlen im Sommer 2017, sie hielt sich aber mit einer Minderheitsregierung an der Macht. Im Sommer 2019 trat sie zurück, nachdem sie mit ihrem Austrittsabkommen aus der EU im britischen Parlament gescheitert war.
  • Ihr Nachfolger wurde Boris Johnson, der im Dezember 2019 bei den Parlamentswahlen ein sehr gutes Ergebnis für die Tories erzielte und im Juli 2022 nach einer ganzen Reihe von Skandalen zurücktreten musste und damit Platz machte für Liz Truss. Dennoch ist Johnson, den viele Beobachter auf dem europäischen Kontinent als Polit-Kasper verspotteten, in Großbritannien und insbesondere bei der politischen Basis der konservativen Partei, immer noch sehr beliebt.

Liz Truss‘ gescheiterten Ziele

Dass es nicht die Frage ist, ob Truss gehen muss, sondern wann sie geht, liegt an den Entscheidungen, die sie getroffen hat und dem wilden Hin und Her, das damit in den vergangenen Wochen verbunden war. Die als ihr Markenzeichen entwickelte politische Philosophie der „Trussonomics“ ist mit Pauken und Trompeten gescheitert.

Dabei waren die ökonomischen Ziele, die sich Liz Truss gesetzt hatte, durchaus nachvollziehbar und keineswegs revolutionär. So machte sie frühzeitig klar, dass sie die Privathaushalte mit einem Energiepreisdeckel deutlich entlasten und dass sie zudem die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft über kräftige Steuersenkungen verbessern wollte. Das sind an und für sich keine verwerflichen Ideen.

Das Problem war allerdings, dass die Frage der Gegenfinanzierung dieses Paketes, das zu weniger Einnahmen und mehr Ausgaben führen würde, völlig offengelassen wurde. Sie hoffte wohl, dass sich ihre Vorschläge mehr oder weniger von selbst finanzieren würden, frei nach dem Motto „mehr Wachstum sorgt für noch mehr Einnahmen“. Dass diese auf dem Prinzip Hoffnung basierende Annahme aber in der Realität nicht funktioniert, lernen Studierende der Volkswirtschaftslehre heute schon im ersten Semester.

Die Folge: Abwertung des Britische Pfunds

Die Auswirkungen dieser wirtschaftspolitischen Vorschläge waren katastrophal. Aus Furcht vor einem zukünftig stark steigenden Haushaltsdefizit und einer deutlich zunehmenden Staatsverschuldung wertete das Britische Pfund innerhalb kürzester Zeit gegenüber dem Euro und vor allem gegenüber dem US-Dollar deutlich ab, zugleich stiegen die Renditen für britische Staatsanleihen (Gilts) massiv an.

Nachdem Liz Truss am 23. September ihren „Mini-Haushalt“ vorgestellt hatte, verzeichneten 10-jährige Gilts innerhalb von vier Tagen Verluste von fast zehn Prozent, dreißigjährige Anleihen verloren fast 25 Prozent.

Diese Marktpanik brachte große britische Pensionskassen in Schwierigkeiten, die in den vergangenen Jahren aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase zunehmend auf sogenannte Liability Driven Investing (LDI)-Strategien gesetzt hatten, um die notwendige Rendite für zugesagte Pensionsverpflichtungen zu erwirtschaften.

LDI-Strategien versprachen höhere Renditen als sie mit herkömmlichen Staatsanleihen zu erzielen waren, weil sie auf Derivaten beruhten, die zudem noch gehebelt werden konnten.

Was in normalen Zeiten gut funktioniert und entsprechend positive Ergebnisse bringt, entpuppt sich in Krisenzeiten jedoch als tickende Zeitbombe.

Aufgrund der in kürzester Zeit stark steigenden Renditen, auf die LDI-Strategien sehr empfindlich reagieren, gerieten die Absicherungspositionen unter Druck und die Pensionskassen mussten Sicherheiten nachschießen. Da man diese Gelder aber nicht in der Kasse hatte, mussten andere Wertpapiere, vornehmlich Staatsanleihen, verkauft werden. Notverkäufe zogen weitere Notverkäufe nach sich, und eine Abwärtsspirale wurde in Gang gesetzt, die die Stabilität des gesamten britischen Finanzsystems bedrohte.

Bank of England intervenierte

Um eine Kernschmelze des Finanzsystems zu verhindern (das sich sicherlich auch auf andere Märkte negativ ausgewirkt hätte), musste die Bank of England in der Folgezeit an den Märkten intervenieren, indem sie versprach, über einen festgelegten Zeitraum (der am 14. Oktober endete) als Käufer von Staatsanleihen aufzutreten, um weitere deutliche Verluste bei den Pensionskassen zu vermeiden.

Der Schuldige für dieses Chaos war schnell gefunden: Schatzkanzler Kwasi Kwarteng wurde letzte Woche entlassen und durch Jeremy Hunt ersetzt. Dieser hat mittlerweile den Kritikern von Truss‘ Politik gegeben, was diese wollten, und hat fast alle von Kwarteng und Tuss angekündigten wirtschaftspolitischen Beschlüsse rückgängig gemacht.


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Die Aufruhr an den Kapitalmärkten hat sich wieder gelegt

… was vordergründig durchaus als Erfolg eingestuft werden kann. Dennoch sitzen die Pensionskassen (und vielleicht nicht nur sie) auf hohen Verlusten, die nicht mehr aufzuholen sind. Zudem scheint es so, dass in der britischen Finanzpolitik eine völlige Beliebigkeit eingezogen ist, und es vornehmlich darum geht, die eigene Regierungsmacht zu verteidigen, egal mit welcher Politik.

Langfristig wird aber das Ergebnis dieser Politik sein, dass Großbritannien ein Land mit weniger Wachstum, höheren Steuern und einer höheren Inflationsrate sein wird.

Leider hat sich auch die britische Notenbank in den vergangenen Wochen nicht gerade mit Ruhm bekleckert, auch wenn es ihr gelungen ist, die Ausschläge an den Kapitalmärkten wieder einzugrenzen. Zulange war sie der Ansicht, dass mögliche Risiken für die Finanzstabilität allein durch regulatorische Anforderungen begrenzt werden können; die Rolle, die eine sehr expansive Geldpolitik spielen könnte, hat sie dagegen – wie wahrscheinlich fast jede andere Notenbank auch – unterschätzt.

Ab 1. November will sie nun damit beginnen, ihr sehr großes Anleihenportfolio abzubauen; ob ihr das gelingen wird, bleibt abzuwarten. Gleichzeitig wird sie auf ihrer nächsten geldpolitischen Sitzung am 3. November die Zinsen erhöhen. Nachdem sie beim letzten Mal überraschenderweise die Zinsen mit 50 Basispunkten weniger stark erhöht hatte als erwartet, wird sie dieses Mal wohl eine Erhöhung um mindesten 75, wenn nicht um 100 Basispunkte beschließen. Denn die Inflationsrate liegt in Großbritannien weiterhin über der Marke von zehn Prozent, und da die Entlastung der Privathaushalte über den Energiepreisdeckel zeitlich verkürzt werden soll, dürfte ein nachhaltiger Rückgang des Preisdrucks länger auf sich warten lassen.

„Ich bin eine Kämpferin, keine Drückebergerin!“,

hieß es zuletzt von ihr. Doch nun hat Liz Truss doch ihren Rücktritt angekündigt. Ob das Chaos in Großbritannien damit wirklich endet? Wer weiß, vielleicht gibt es ja doch ein Wiedersehen mit Boris Johnson. Dann könnte die Polit-Show in die nächste Runde gehen…

Als Anleger sollte man jedenfalls zunächst einen großen Bogen um britische Investments machen.

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Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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