Wachstum in Deutschland – was läuft falsch, was geht besser?

Wer schulpflichtige Kinder hat, kommt unweigerlich mit Schulbüchern und deren Inhalt in Kontakt. Und während sich heutige Mathematik- und Physikbücher nicht sonderlich von denen der eigenen Schulzeit unterscheiden, gibt es im Bereich Wirtschaft und Politik doch die eine oder andere Akzentverschiebung.

Auffällig ist beispielsweise der kritische Umgang mit Wachstum. In vielen Texten wird implizit der Eindruck erweckt, dass die Lösung der Menschheitsprobleme besser gelänge, wenn kein Wirtschaftswachstum mehr stattfände. Indirekt wird in den Texten oft unterstellt, dass Wirtschaftswachstum zwingend mit zusätzlichem Ressourcenverbrauch einhergeht und damit schon aus ökologischen Gründen die Grenzen des Wachstums erreicht seien. Hier schwingt eine Vorstellung über wirtschaftliche Zusammenhänge mit, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts sicher ihre Berechtigung hatte, heute jedoch nicht mehr.

Die Zeiten, in denen der Zuwachs der Wertschöpfung aus der Montan- und Ölindustrie kamen, sind lange vorbei.

Wertschöpfung kann überall dort entstehen, wo eine Zahlungsbereitschaft für ein Gut oder eine Dienstleistung besteht. Wenn mit dem Wachstum Strukturwandel einhergeht, führt dies heutzutage eher dazu, dass bei steigender Wertschöpfung der Ressourcenverbrauch sinkt, da Dienstleistungen sowie die Entwicklung und Implementation von Hochtechnologie ressourcenverbrauchende Tätigkeiten zunehmend ersetzen.

Ohne Wachstum keine ökologische Zielerreichung

Es ist tatsächlich sogar noch extremer: Erst Wachstum ermöglicht die erwünschte Transformation hin zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft. Vielen ist gar nicht klar, welche unglaublichen Hürden und Probleme überwunden werden müssen, wenn in einigen Jahrzehnten CO2-neutral gewirtschaftet werden muss. Die Elektrifizierung wird dramatisch voranschreiten müssen – das beginnt bei der Elektromobilität und hört bei Wärmepumpen noch lange nicht auf.

Ganze Industrieprozesse werden strombasiert sein; auch die Wasserstofferzeugung über Elektrolyse erfordert Unmengen an Strom.

Dazu ist nicht nur ein in der Dimension bisher nie dagewesener Ausbau erneuerbarer Energien notwendig; wichtig ist auch ein gewaltiger Ausbau von Wasserstoffspeichern, CO2-Speichern und dazugehörigen Pipelines, eine Ertüchtigung des Stromnetzes über viele zehntausende (!) von Kilometern allein in Deutschland sowie eine teure Aufrechterhaltung von konventionellen Parallelstrukturen für Dunkelflauten. Die Systemkosten einer weitgehend CO2-freien Stromerzeugung liegen damit deutlich über heutigen Stromkosten und die notwendigen Investitionen sprengen fast jede Vorstellungskraft. Ohne Wachstum wird das nicht gehen. Eine statische Volkswirtschaft generiert nicht genug Wertschöpfung und damit unmittelbar zusammenhängend genug Gewinne und Löhne, um derartige Lasten tragen zu können.

Ohne Wachstum keine soziale Zielerreichung

Deutschland leidet trotz hoher Einwanderung an einer desolaten Demographie. Menschen werden älter, die Multimorbidität nimmt zu. Gleichzeitig werden Behandlungsmethoden immer individueller und immer teurer. Diese Last ist nur mit steigenden Einnahmen in den Krankenversicherungen zu stemmen, was eine steigende Lohnsumme unausweichlich macht. Auch die Rentenversicherung wird nur bei einer steigenden Lohnsumme finanzierbar sein. Eine steigende Lohnsumme bedingt aber Wachstum, wenn die Gewinnsumme nicht sinken soll. Eine sinkende Gewinnsumme ist aber ebenfalls sozialpolitisch unerwünscht. Ein Beispiel ist der schleppende Wohnungsbau in Deutschland. Inzwischen fehlen in Deutschland wahrscheinlich eine Millionen Wohnungen. In der Folge sind Mieten auf ein Rekordniveau gestiegen, und Obdachlosigkeit hat einen Umfang erreicht, wie er vor 20 oder 30 Jahren in Deutschland vollkommen unvorstellbar war.

Es gibt Stadtviertel in Frankfurt oder Berlin, in denen man eine beginnende Verelendung förmlich mit den Händen greifen kann, wenn man mit offenen Augen durch die Straßen geht.

Wohnungsbau braucht aber viel privates Kapital. Reinvestierte Gewinne sind hier die Quelle für dieses Kapital, aber auch Ersparnisse von Privatpersonen, die wiederum die Kreditvergabe von Banken ermöglichen. Um es kurz zu machen: Ohne Wachstum keine zusätzlichen Löhne und Gewinne, ohne zusätzliche Lohne und Gewinne keine Chance auf einen forcierten Wohnungsbau.

Ohne Wachstum kein staatlicher Gestaltungsspielraum

Auf den Staat kommen in den kommenden Jahren die vermutlich anspruchsvollsten Aufgaben seit Gründung der Bundesrepublik zu. Die einst vielgelobte deutsche Infrastruktur ist inzwischen ein Graus – jedes Jahr steigt beständig die Anzahl der maroden Brücken und der sanierungsbedürftigen Straßen- und Schienenabschnitte. Deutschland muss als zweitgrößtes Einwanderungsland der Welt Millionen von Flüchtlingen integrieren. Eine nahezu nicht mehr existierende Bundeswehr muss angesichts der bestehenden Bedrohungen von Grund auf neu aufgebaut werden. Das Bildungssystem hat massiv an Leistungsfähigkeit verloren und bedarf eines Neustartes.

Das Gesundheitssystem und die Verwaltungen warten auf eine Digitalisierung, die den Namen verdient.

Und als wenn das nicht genug wäre, scheint auch die innere Sicherheit mehr Fokus verdient zu haben. All das geht nicht ohne Geld. Wir reden hier nicht von ein paar Mrd. Euro pro Jahr, sondern eher von 100 oder 200 Mrd. Euro pro Jahr, und das über einen Zeitraum von sehr vielen Jahren, und zwar zusätzlich (!) zu dem, was schon in der mittelfristigen Haushaltsplanung zu finden ist.

Eine solche Finanzierung fällt nicht vom Himmel.

Steuern und Abgaben sind an Löhne und Gewinne gekoppelt. Ohne eine steigende Lohnsumme und ohne steigende Gewinne kann der Staat nur auf zusätzliche Verschuldung setzen – eine gewagte Strategie. Zwar spricht im Prinzip nichts gegen eine etwas stärkere Verschuldung und vielleicht sogar eine Abschaffung der nationalen Schuldengrenze, aber auch hier bleibt der Kapitalmarkt nur entspannt, wenn der steigenden Verschuldung eine steigende Wertschöpfung gegenübersteht.

Wie man es auch dreht und wendet: Der Staat wird seine Aufgaben in einer statischen Wirtschaft kaum noch erfüllen können.

Wenn wir bewusst auf Wachstum verzichten, ist der Weg hin zu einem zunehmend dysfunktionalen Staatswesen vorgezeichnet. Da die Substanz, von der wir in Deutschland leben, immer noch gewaltig ist, werden wir zunächst kaum merken, wie wir uns auf eine schiefe Ebene begeben. Aber ab einem gewissen Punkt werden die Kippeffekte so heftig, dass die Gegenwehr vermutlich zu spät kommen wird.

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Die Ironie ist dabei die, dass die gewaltige wirtschaftliche Substanz, die uns das Leben immer noch recht angenehm gestaltet, eigentlich das Ergebnis früheren Wachstums ist. Die Früchte des Wachstums vorheriger Jahrzehnte sind immer noch so üppig, dass wir ein wenig vergessen haben, dass es langsam Zeit wird, wieder neues Wachstum zu generieren.

Dabei gibt es tatsächlich gar keine Alternative zu mehr Wachstum, wenn wir nicht kollektiv massive Wohlfahrtsverluste erleiden wollen.

Angesicht der anstehenden Herausforderungen ist es eine vergleichsweise naive Vorstellung, dass man mit einem weitgehenden Einfrieren der aktuellen Wertschöpfung und damit mit einem Leben ohne Wachstum den aktuellen Wohlstand halten kann. Ein statisches Land in einer wachsenden Welt bei globalen Herausforderungen ist einfach nicht sexy, um es mal so zu formulieren. Es ist nicht attraktiv für hochqualifizierte Deutsche, die dann das Land verlassen werden.

Es ist nicht attraktiv für hochqualifizierte potenzielle Einwanderer, die ihre Zukunft woanders suchen. Es ist nicht attraktiv für potenzielle Investoren, die ihre neuen Produktionsstätten außerhalb von Deutschland errichten und alte Anlagen ins Ausland verlagern.

Eine statische Wirtschaft ist ökologisch, sozial und gesellschaftlich das Ticket in eine schlechtere Welt. Auch aus politischer Sicht – nicht zuletzt um das Aufkommen populistischer und extremer Parteien zu bremsen – müssten eigentlich alle etablierten demokratischen Parteien ein großes Interesse daran haben, die Wachstumsflaute in Deutschland zu überwinden. Interessanterweise scheint man in breiten politischen Kreisen die anhaltende Wachstumsschwäche Deutschlands mit Schulterzucken hinzunehmen, so als wenn man sich einem gottgegebenen Schicksaal ergeben müsste. Doch ist das wirklich so?

Neues Wachstum in Deutschland – eigentlich ziemlich einfach!

Wenn man Volkswirte nach den Gründen für die extreme deutsche Wachstumsschwäche befragt, fallen die Antworten vergleichsweise homogen und eindeutig aus. Deutschland wird als extrem bürokratisch, überreguliert und wenig digitalisiert wahrgenommen, die Steuern und Abgaben sind zu hoch, das Bildungsniveau ist zu niedrig. Es gibt zu wenige Ingenieure, zu wenig Physiker und zu wenig Chemiker. Die Zahl relevanter, hochwertiger Patente pro Einwohner sinkt, Fähigkeiten in Schlüsseltechnologien gehen zunehmend verloren. Es wird zu wenig investiert und zu viel umverteilt, die Infrastruktur ist abschreckend schlecht, Genehmigungsverfahren dauern zu lange. Energiekosten sind zu hoch, die Energiesicherheit ist zu gering. Und zu allem Überfluss ist inzwischen auch noch die Stimmung depressiv.

Doch gibt es gar keine Hoffnung mehr?

Diese Liste an Mängeln und Problemen ist so deprimierend, dass man eigentlich verzweifeln kann. Doch gibt es gar keine Hoffnung mehr? Die tröstende Antwort ist die, dass es natürlich immer Hoffnung gibt.

Eine Volkswirtschaft ist kein biologischer Organismus, der irgendwann zwingend dem Tod entgegeneilt.

Volkswirtschaften sind vielmehr hochdynamische Systeme, die sich immer wieder neu erfinden und regenerieren können. Hier ist nichts in Stein gemeißelt – eigentlich ist innerhalb gewisser Grenzen sehr viel möglich, und deterministisch ist hier gar nichts. Der Schlüssel zum Erfolg hat sechs Buchstaben und lautet schlicht und einfach: Arbeit!

Wir arbeiten einfach zu wenig

Die Wertschöpfung eines Landes hängt direkt mit der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zusammen. Bei gegebener Arbeitsproduktivität kann die Wertschöpfung eines Landes mehr oder weniger direkt und proportional zum Arbeitseinsatz durch mehr Arbeit erhöht werden. Wenn Deutschland also in den letzten Jahren so wenig gewachsen ist wie kaum ein anderes wichtiges Land auf diesem Planeten, dann hängt das auch damit zusammen, dass in Deutschland extrem wenig gearbeitet wird.

Arbeitsstuden pro Jahr pro Erwerbstätigem 2023
Quelle: Refinitiv Datastream und OECD

Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem sind in Deutschland unterdurchschnittlich

Allerdings gibt es hier verschiedene Möglichkeiten, sich diesem Thema zu nähern. Je nach Sichtweise wird die eine oder andere Statistik präferiert, und es ergibt Sinn, sich diesem Themenkreis aus mehreren Richtungen zu nähern. Der üblichste Einstieg in die Materie ist die Betrachtung der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem. Hier sieht es in Deutschland düster aus – während in Deutschland pro Jahr nur etwa 1300 Stunden pro Erwerbstätigem gearbeitet werden, liegen viele Länder bei 1700 Stunden oder mehr.

Arbeitsstunden pro Einwohner sind in Deutschland unterdurchschnittlich

Allerdings liefert diese Statistik noch kein vollumfängliches Bild, denn um zu verstehen, wie sich die Auswirkungen des Arbeitseinsatzes auf die Wohlfahrt eines Landes darstellen, ist der Blick auf die Arbeitsstunden pro Jahr pro Einwohner ebenso wichtig. Denn es macht einen Unterschied, ob es relativ zur Größe der Bevölkerung viele oder wenige Erwerbstätige gibt. Je kleiner der Quotient, umso trüber die Zukunftsaussichten eines Landes.

Arbeitsstunden pro Jahr pro Einwohner 2023
Quelle: Refinitiv Datastream und OECD

Leider schneidet Deutschland auch in der zweiten Statistik, nämlich der Arbeitsstunden pro Jahr pro Einwohner, nicht besonders gut ab. Richtig problematisch wird es allerdings, wenn man sich die Entwicklung des gesamten volkswirtschaftlichen Stundenvolumens über die letzten 25 Jahre anschaut.

Deutschland gehört hier zur Gruppe der Länder, die sich hier mehr oder weniger nur seitwärts bewegt haben.

Trotz extrem hoher Einwanderung. Das ist ein Sachverhalt, der weltweit mehr oder weniger einmalig sein dürfte.

Wachstum in Deutschland in den letzten 10 Jahren fast bei null

Während also sehr viele Länder in den letzten 25 Jahren dadurch Wachstum generieren konnten, indem sie einfach ihr gesamtes Arbeitsstundenvolumen ausgeweitet haben, musste Deutschland sein Wachstum primär über den Anstieg der Arbeitsproduktivität stemmen – und das hat nicht geklappt, wie wir gleich noch sehen werden. Besonders enttäuschend war die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens übrigens in den letzten zehn Jahren; kein Wunder, dass gerade in den letzten zehn Jahren das Wachstum in Deutschland bei nahezu Null lag.

Das Ganze wird nun durch die Tatsache verschlimmert, dass auch die Arbeitsproduktivität – früher ein Paradepferd deutscher Leistungsfähigkeit – schwächelt.

Es gab zwar einige wenige Länder, in denen die Entwicklung der Arbeitsproduktivität noch schwächer ausfiel als in Deutschland, jedoch wurde dort dann immerhin pro Erwerbsperson und fast immer auch pro Einwohner absolut mehr gearbeitet. Und gleichzeitig gibt es eine Reihe von Ländern, die einen dramatisch besseren Zuwachs in der Arbeitsproduktivität erlebt haben als in Deutschland.

Fazit: Wir müssen wieder mehr und härter arbeiten

Man kann es drehen und wenden wie man will. Grundsätzlich gilt: Wir müssen wieder mehr und härter arbeiten. Mehr Stunden pro Woche, mehr Jahre und das bei einer höheren Partizipationsrate am Arbeitsmarkt! Wir lassen ein gewaltiges Maß an Humankapital in Deutschland nahezu unbenutzt, um es mal ganz hart ökonomisch zu formulieren. In den 80er Jahren gab es die Gruppe Geier Sturzflug. Den Text ihres einzigen erfolgreichen Liedes kann ich noch heute auswendig: „Ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt…“. Vergessen wir unsere kollektive Depression und machen es einfach mal wieder wie früher!

Quelle Abbildungen: Refinitiv Datastream und OECD

Beitragsbild von Ales Maze auf Unsplash

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Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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