Neuer DAX-Rekord: Mehr Schein als Sein?
26. Mai 2023Nun ist es also doch passiert: Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Rezession, da entgegen der ersten Schätzung das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal gesunken ist. Da es auch schon in Q4 2022 ein Minus von 0,5 Prozent gegeben hat, ist das technische Kriterium für eine Rezession erfüllt.
Liegt es am Konsum?
Schaut man sich die Verwendungsseite der Wertschöpfung genauer an, ist der „Sündenbock“ für das überraschend schwache wirtschaftliche Abschneiden in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 schnell gefunden: Es sind die staatlichen Konsumausgaben. Denn diese sind gegenüber dem Vorquartal mit -4,9 Prozent so stark gesunken wie niemals zuvor seit der deutschen Wiedervereinigung.
Würde man diesen Wert auf das Gesamtjahr hochrechnen, wie dies in den USA üblich ist, ergäbe sich ein Einbruch von fast 20 Prozent!
Angesichts der ökonomischen Herausforderungen vor denen Deutschland steht (Energiewende, Klimakrise, Verteidigungsausgaben) kann man sich hier nur verwundert die Augen reiben und hoffen, dass in den kommenden Quartalen auch Bund, Länder und Kommunen wieder etwas mehr Geld in die Hand nehmen
Einigung im US-Haushaltsstreit erst in letzter Sekunde
Trotz des heftigen Gegenwinds, den schwache Wirtschafsdaten, eine immer noch viel zu hohe Inflationsrate und die restriktivere Geldpolitik der Notenbanken verursachen, hat der DAX in diesem Jahr fast 14 Prozent an Wert gewonnen und in der vergangenen Woche sogar einen neuen Rekord mit 16.332 Punkten erreicht. Viele Anlegerinnen und Anleger fragen sich, wie das angesichts der aktuellen Nachrichtenlage passieren konnte und ob an der Börse schon wieder ein irrationaler Überschwang zu beobachten ist, der zwangsläufig zu einer schmerzhaften Korrektur bzw. einem Crash führen muss.
Das i-Tüpfelchen auf dem derzeitigen Giftcocktail an negativen Nachrichten stellt sicherlich das politische Tauziehen um die Anhebung der Schuldenobergrenze in den USA dar.
Eigentlich handelt es sich hierbei um einen routinemäßigen Akt, der so schon ungefähr hundertmal stattgefunden hat. Finanzministerin Yellen hat davor gewarnt, dass der „X-Day“, an dem dem US-Finanzministerium das Geld ausgeht, am 1. Juni erreicht sein könnte. Wird die Schuldenobergrenze von bislang 31,4 Billionen US-Dollar bis dahin nicht angehoben oder ausgesetzt, kann die Regierung einige ihrer Zahlungen nicht mehr leisten. Dazu könnten beispielsweise Zinszahlungen oder auch die Rückzahlung fällig werdender Staatsanleihen gehören, was einem Staatsbankrott gleichkäme. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte, die mit einem – selbst nur kurzen – Zahlungsausfall verbunden sein könnten, wären vermutlich schwerwiegend: Die Finanzmärkte würden in Aufruhr versetzt werden, und die Wirtschaft könnte in eine Rezession stürzen.
Weil allen Beteiligten diese Effekte bekannt sind, ist die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls nahezu null. Dennoch sieht es so aus, als ob eine Einigung erst in letzter Sekunde gelingen wird, sodass die Aktienmärkte zunächst unter Druck stehen dürften. Dies könnte allerdings wie schon so häufig der für die Politik notwendige Weckruf für einen Kompromiss sein. Die Erfahrung von 2011 hat den Anlegern gezeigt, dass Washington, wenn es an den Rand des Abgrunds getrieben wird (Szenario „Brinkmanship“ in der obigen Tabelle), schließlich handelt. Entgegen den Befürchtungen, die damals gehegt wurden, erwiesen sich die wirtschaftlichen Auswirkungen des Schuldenstreits letztlich als vernachlässigbar. Aus diesem Grund sollten sich die Aktienmärkte auch dieses Mal wieder erholen, wenn es zu einer Lösung im Schuldenstreit kommt.
Konjunktur: Dienstleister hui, Industrie pfui
Während die Frühindikatoren aus dem verarbeitenden Gewerbe nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Regionen der Welt auf eine Rezession hindeuten, sind die Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor ungleich positiver gestimmt. Das sind erstmal gute Nachrichten, denn Dienstleistungen machen in den meisten entwickelten Ländern 80 bis 90 Prozent der Wertschöpfung aus. Hinzu kommen robuste Arbeitsmärkte, die den privaten Konsum stützen, sowie immer noch überdurchschnittlich hohe Auftragsbestände bei vielen Unternehmen. Aus diesem Grund wollen wir uns zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in den vielstimmigen Rezessionschor einreihen.
Zudem haben wir den Eindruck, dass taktische Asset Allocation auf Basis von Konjunkturdaten in den vergangenen Jahren ohnehin keine besonders guten Ergebnisse mehr erzielt hat. Wir haben seit dem Jahr 2000 sogenannte „Konjunkturzyklusmodelle“ im Einsatz, die die Aktienquote in Abhängigkeit von verschiedenen konjunkturellen Frühindikatoren steuern können. Sowohl den großen Aktienabschwung von 2000 bis 2003 als auch den von 2008 haben diese Modelle gut vorhergesehen. Allerdings war in den vergangenen Jahren der Mehrwert dieser Vorgehensweise überschaubar. Unserem Eindruck nach wurden alle wirtschaftlichen Einflussfaktoren von der Geldpolitik überlagert. Und genauvon dieser Seite könnte der Aktienmarkt in der nächsten Zeit Unterstützung bekommen, da der (globale) Preisdruck mittlerweile deutlich nachgelassen hat. Insofern dürfte sich die Phase der Zinserhöhungen dem Ende zuneigen.
Unternehmensgewinne und günstige Bewertungen in Europa geben Rückenwind
Trotz der derzeit weit verbreiteten Skepsis gegenüber Aktien ist festzustellen, dass die Berichtssaison für das erste Quartal zu einer Vielzahl von positiven Gewinn- und Umsatzüberraschungen geführt hat. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa konnten mehr Unternehmen als üblich die in sie gesetzten Erwartungen übertreffen. Die notwendigen Anpassungen der Gewinnschätzungen seitens der Unternehmensanalysten haben dazu geführt, dass die sogenannten Forward Earnings, also die für die kommenden 12 Monate erwarteten Unternehmensgewinne, für den DAX und für den Euro Stoxx 50 auf ein Rekordniveau angestiegen sind. Insofern sind die Kursrekorde auch keine große Überraschung, da sich die Aktienkurse primär an den Unternehmensgewinnen orientieren.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob die zugrundeliegenden Gewinnerwartungen zu optimistisch sein könnten. Nachdem für die DAX-Unternehmen zwischenzeitlich mit einem Gewinnrückgang von fünf Prozent für das Jahr 2023 gegenüber 2022 gerechnet wurde, liegen die Prognosen für dieses Jahr mittlerweile auf demselben Niveau wie im Vorjahr. Für das noch relativ weit entfernte Jahr 2024 wird von den Analysten wie üblich mit einem weiteren Gewinnzuwachs von rund zehn Prozent gerechnet. Da Unternehmensgewinne eine nominale Größe sind, halten wir angesichts einer im Jahresdurchschnitt 2023 zu erwartenden Inflationsrate von fünf bis sechs Prozent die Ertragsprognosen für dieses Jahr für etwas zu vorsichtig, während die Erwartungen für 2024 wahrscheinlich zu optimistisch sind. Im Großen und Ganzen sind die Einschätzungen für die kommenden beiden Jahre aber nachvollziehbar.
Ist der Dax zu günstig?
Das bedeutet auch, dass das derzeitige Kurs-Gewinn-Verhältnis für den DAX auf Basis der Gewinnerwartungen von 11,5 realistisch ist und nicht auf künstlich überhöhten Gewinnprognosen beruht. Im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt seit dem Jahr 2003 von 12,6 ist der DAX also trotz seines guten Laufs in diesem Jahr immer noch günstig bewertet, sodass bis zum Jahresende ein Kursanstieg auf 17.000 Punkte möglich ist, wenn es nicht doch noch zu einer schwereren Rezession kommt. Ähnliches gilt für den Euro Stoxx mit einem aktuellen KGV von 12,9 im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt von 13,1 und für den Stoxx 50 mit einem KGV von 13,9 im Vergleich zu einem Durchschnittswert von 13,7.
US-Aktien teurer, aber Rückkaufprogramme sorgen für steigende Kurse
Obwohl institutionelle und private Anleger in den USA ihre Aktienengagements reduziert haben, sorgen die Aktienrückkaufprogramme der großen Unternehmen dafür, dass die Kurse dennoch weiter angestiegen sind. Nach Angaben des Marktforschungsunternehmens Birinyi Associates haben die im Russell 3000 enthaltenen Unternehmen in diesem Jahr bereits Pläne zum Rückkauf von Aktien im Wert von mehr als 600 Milliarden US-Dollar bekanntgegeben. Dies entspricht zu diesem Zeitpunkt dem Rekordvolumen des vergangenen Jahres. 2022 wurden Aktienrückkäufe im Wert von insgesamt 1,27 Billionen Dollar angekündigt, von denen Rückkäufe im Wert von 1,05 Billionen Dollar umgesetzt wurden.
Aktienrückkäufe führen zu einer erhöhten Nachfrage, die den Aktienkurs in die Höhe treiben können.
Durch die Einziehung der zurückgekauften Aktien verringern die Unternehmen zudem die Anzahl der im Umlauf befindlichen Aktien, sodass sich der Gewinn je Aktie erhöht. Andernfalls wäre die vergleichsweise hohe Bewertung der US-Aktien (S&P 500-KGV von 18,1 vs. 15,5 im Durchschnitt, Nasdaq 100-KGV von 25,4 vs. 19,9 im Durchschnitt) noch ausgeprägter. Bei steuerpflichtigen Anlegern fallen auf Aktienrückkäufe zudem keine zusätzlichen Steuern an, bis sie die Aktien verkaufen und ihre Kapitalerträge realisieren, anders als bei Dividendenausschüttungen, die als Einkommen besteuert werden.
Vor allem große US-Technologiewerte sind für den Löwenanteil der Rückkäufe verantwortlich. Apple, Alphabet, Meta Platforms und Microsoft waren nach Angaben von S&P Dow Jones im ersten Quartal die größten Käufer eigener Aktien. Apple war mit Ausgaben in Höhe von 19,1 Mrd. USD in diesem Zeitraum der Spitzenreiter. Da viele dieser Unternehmen immer noch über hohe Bargeldbestände verfügen, sollte sich die gute Wertentwicklung des Nasdaq 100-Index dank der Aktienrückkäufe fortsetzen – der relativ hohen Bewertung zum Trotz.
Autor: Carsten Klude
Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.
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