Krieg, Inflation und Rezession: Warum man trotzdem Aktien nie komplett verkaufen sollte

Es ist eine vollkommen menschliche Reaktion: Man beobachtet, wie die Welt unter einer Vielzahl von Problemen und Belastungen leidet und fragt sich, wie unter diesen Voraussetzungen Unternehmen prosperieren und Aktienkurse steigen können. Das führt dann dazu, dass man immer wieder versucht ist, schon bestehende Kursverluste zu begrenzen und weitere befürchtete Kurverluste zu vermeiden, indem Aktien verkauft werden.

Da wird es schnell emotional

Das Ganze wird noch dadurch befeuert, dass man von einer überbordenden Berichterstattung über alle möglichen Krisen und Probleme geradezu bombardiert wird, und das nicht selten in Echtzeit. Diese zunehmend hektische und bisweilen hoch emotionale Berichterstattung verstärkt selbst bei absoluten Vollprofis den Reflex, den Aktienmarkt temporär komplett zu verlassen, da eine positive Wertentwicklung in der nahen Zukunft komplett unrealistisch erscheint.

Doch gibt es wirklich gute Gründe, den Aktienmarkt temporär komplett zu verlassen?

Und wie gut müsste man mit seiner Trefferquote bei den Entscheidungen sein, damit eine solche Strategie überhaupt aufgehen kann?

So haben wir getestet

An Kapitalmärkten lassen sich derartige hypothetische Fragen am besten dadurch beantworten, indem das Verhalten von Investoren simuliert und die Ergebnisse analysiert werden. Genau das haben wir vor dem Hintergrund der obigen Frage gemacht.

Der „Versuchsaufbau“ sah dabei wie folgt aus: In 10.000 Durchläufen haben wir jeweils einen Investor simuliert, der in etwa 75% der Zeit im MSCI Welt investiert war und in 25% der Zeit in unverzinster Kasse. Transaktionskosten wurden nicht berücksichtigt, und das Investment in den MSCI Welt war ebenfalls kostenfrei.

Wenn man nun für die 10.000 generierten möglichen Renditepfade die Sharpe-Ratio sowie die dazu notwendigen Trefferquoten in den taktischen Entscheidungen berechnet, ergibt sich folgendes Bild:

Was fällt dabei auf?

Dabei zeigt sich, dass man eine Trefferquote von fünf bis zehn Prozentpunkten oberhalb der durchschnittlichen Trefferquote benötigt, um im Sharpe-Ratio besser als ein kontinuierliches Vollinvestment abzuschneiden. Das ist extrem ambitioniert, aber immerhin nicht komplett ausgeschlossen, zumal Treffer nicht gleich Treffer ist.

Auch mit einer nur marginal überdurchschnittlichen Trefferquote konnte in Ausnahmefällen die Sharpe-Ratio des MSCI Welt geschlagen werden.

Selbst sensationell gute Trefferquoten schützen nicht vor einer Underperformance.

Trotzdem lässt sich festhalten, dass unter dem Aspekt einer risikoadjustierten Rendite ein zeitweiliges Markttiming immerhin nicht vollkommen aussichtlos erscheint.

Was ist mit der kumulierten Rendite?

Dieses Bild ändert sich komplett, wenn man allein auf die kumulierte Rendite abstellt. Hier zeigt sich nämlich, dass hohe Trefferquoten bei den Timingentscheidungen notwendig sind, damit überhaupt jemals der MSCI Welt geschlagen werden kann –

und selbst wenn die Trefferquoten außergewöhnlich hoch sind, ist der Erfolg dieses Könnens doch mehr als begrenzt.

Die folgende Punktegrafik lässt dies schon erahnen, jedoch ist in dieser Abbildung nicht gut ablesbar, wie dicht die Punkte unterhalb der Nulllinie auf der Y-Achse tatsächlich sind. Denn dass tatsächlich Punkte oberhalb der Nulllinie (und nur diese gehen mit einer Outperformance des MSCI Welt einher) die komplette Ausnahme sind erkennt man erst, wenn man sich die verschiedenen Quantile der 10.000 Pfade betrachtet.

Wenn wir der beste Investor am Markt wären

Angenommen, man wäre als Investor so gut, dass nur fünf Prozent der Investoren über noch bessere Timing-Fähigkeiten verfügten, dann entspräche die Wertentwicklung in der Simulation dem 95%-Quantil über alle Pfade.

Analysiert man den Verlauf des 95%-Quantils, so stellt man - vermutlich etwas erstaunt - fest, dass die Wertentwicklung meist unterhalb des MSCI Welt verläuft! 
Tatsächlich muss man auf das 99,9%-Quantil der Verteilung gehen, um in der Simulation auf eine Wertentwicklung zu stoßen, die hinreichend deutlich oberhalb der Wertentwicklung des MSCI-Welt liegt.

Analysiert man den Verlauf des 95%-Quantils, so stellt man – vermutlich etwas erstaunt – fest, dass die Wertentwicklung meist unterhalb des MSCI Welt verläuft!

Tatsächlich muss man auf das 99,9%-Quantil der Verteilung gehen, um in der Simulation auf eine Wertentwicklung zu stoßen, die hinreichend deutlich oberhalb der Wertentwicklung des MSCI-Welt liegt.

Harte Timing-Ansätze funktionieren kaum

Wir wollen hier keinem Investor zu nahe treten, aber wer ernsthaft glaubt, dass dies ein realistisches und planbar erreichbares Ziel darstellt, der wird vermutlich auch daran glauben, einen planbaren Lottogewinn erzielen zu können. Die Sache ist einfach zu eindeutig. Der Aktienmarkt hat sich in den letzten Jahrzehnten so gut entwickelt, dass temporäre komplette „Ausstiege“ in der Summe fast immer ein Fehler waren. Um mit einem aggressiven Markttiming über sehr lange Zeiträume den Markt schlagen zu können, braucht man fast übermenschliche Fähigkeiten.

Das muss nicht bedeuten, dass es keine Berechtigung für eine taktische Allokation gibt.

In Zeiten einer globalen Finanzkrise (wie 2008/2009) verlangt niemand, seine Aktienquote zwanghaft aufrechtzuerhalten, und man wäre auch nicht gut beraten gewesen, das zu tun. Tatsächlich wird es immer wieder Momente geben, wo ein vernunftbegabter Investor mit einer reduzierten Aktienquote keinen Fehler begeht. Und wenn letztlich nur die risikoadjustierte Rendite von Relevanz ist und nicht die absolute Rendite, dann kann eine taktische Allokation sogar noch mehr Sinn ergeben.

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Das sollten Sie vermeiden

Einen ernsthaften handwerklichen Fehler begeht man aber dann, wenn man (wie hier unterstellt und getestet) anfängt, binäre Entscheidungen zu treffen und entweder zu 100% oder zu 0% investiert zu sein.

Solche Entscheidungen gleichen letztlich einer Anmaßung von Wissen.

Sowohl für Privatkunden als auch für institutionelle Investoren sollten die hier aufgeführten Berechnungen eine Warnung sein. Wer über einen langfristigen Anlagehorizont verfügt, sollte auch langfristig anlegen, ohne sich immer wieder zu sehr vom Weltgeschehen ins Bockshorn jagen zu lassen. Stetigkeit ist der beste Garant für langfristigen Erfolg. So gesehen hatte der Börsen-Altmeister André Kostolany wohl doch Recht, als er davon sprach, dass man Aktien kaufen und sich dann schlafen legen sollte.

Denn man überschätzt regelmäßig den Effekt, der von kurzfristigen Krisen ausgeht.

Natürlich führen Krisen zu Bewertungsabschlägen. Aber am Ende werden an Aktienmärkten zukünftige Gewinne gehandelt, und die werden nur zu einem kleineren Teil von aktuellen Krisen getrübt. Märkte erinnern sich an diesen Sachverhalt oft auch schon dann, wenn die Krisen noch gar nicht vorbei sind und starten dann unverhofft die nächste Rallye. Das macht das Timing von Märkten so schwer. Und es spricht für einen langen Atem sowie gegen häufige und extreme Veränderungen von Investitionsquoten. In der Ruhe liegt die Kraft!

Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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