Geldpolitik: Völlig losgelöst

Die Notenbanken ziehen alle Register, um die ökonomischen Auswirkungen der Covid19-Pandemie einzudämmen und um eine neue Finanzkrise zu verhindern. Vor allem Letzteres ist ihnen bislang gut gelungen, nachdem die ersten wirtschaftlichen Schockwellen des Coronavirus Mitte März zu einer Panik an den Finanzmärkten führte. Doch dem beherzten Eingreifen der Fed, der EZB und vieler anderer Zentralbanken ist es zu verdanken, dass an den Kapitalmärkten weitgehend Normalität eingekehrt ist.

Aber was heißt schon Normalität?

Während die realwirtschaftlichen Daten immer deutlicher erkennen lassen, dass die während der Monate März bis Mai entstandenen volkswirtschaftlichen Schäden immens sind, haben die Aktienmärkte ihre zwischenzeitlichen Verluste entweder ganz (wie im Fall der US-Technologiebörse Nasdaq) oder zumindest zu großen Teilen wieder wettgemacht. Zumindest auf den ersten Blick scheinen die meisten Anleger somit einem herben Realitätsverlust zu unterliegen. Denn nur die größten Optimisten gehen davon aus, dass sich die Wirtschaft nach dem Ende des Lockdowns genauso schnell wieder erholen wird wie sie vorher eingebrochen ist.

Wie schnell wird der wirtschaftliche Aufholprozess?

Ökonomen und Marktteilnehmer versuchen unter anderem anhand neuer Echtzeitindikatoren zu ergründen, wie schnell der wirtschaftliche Aufholprozess verläuft.

Fußgänger & Autofahrer

In der Tat sehen einige Indikatoren vielversprechend aus: So zeigen beispielsweise von Apple veröffentlichte Daten des hauseigenen Kartendienstes, dass die Zahl der Routenabfragen von Autofahrern und Fußgängern sich seit Mitte April deutlich erhöht hat und in vielen Ländern mittlerweile höher ist, als es vor dem Einbruch Mitte März der Fall war. Allerdings ist diese Entwicklung vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass viele Menschen aus Angst vor einer Ansteckung nach wie vor öffentliche Verkehrsmittel meiden.

Restaurantreservierungen

Auch die Zahl der gebuchten Tische in den Restaurants wird mittlerweile gerne als Konjunkturindikator verwendet. Das Unternehmen OpenTable stellt tagesaktuelle Daten zur Verfügung, die zeigen, wie sich die Zahl der Reservierungen im Vergleich zum Vorjahr entwickelt. Nachdem von Mitte März bis Mitte Mai in den USA so gut wie gar keine Reservierungen verzeichnet wurden, hat sich die Situation zuletzt etwas entspannt, und das Minus ist auf 75 Prozent zurückgegangen. Für Deutschland wird sogar nur noch ein Rückgang von 13 Prozent verzeichnet.

Doch stellt sich die Frage, ob hier wirklich derselbe Vergleichsmaßstab angesetzt wird, da aufgrund der einzuhaltenden Abstandsregelungen in den meisten Restaurants weniger Tische zur Verfügung stehen als noch vor einem Jahr.

Flugzeugpassagiere

Auch die Zahl der von der TSA (Transport Security Administration) in den USA erfassten Flugpassagiere hat sich etwas erhöht. Im Tief wurden Mitte April gerade einmal knapp 88.000 Passagiere an einem Tag gezählt, gestern waren es dagegen schon fast 340.000. Im Vorjahr lag diese Zahl aber bei gut 2,4 Millionen, sodass sich immer noch ein Minus von fast 85 Prozent ergibt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht das größte Manko dieser Zeitreihen ist, dass keine Datensätze zur Verfügung stehen, die länger in die Vergangenheit zurückreichen. Von daher ist es unmöglich zu überprüfen, ob sich diese Daten wirklich als zuverlässige Konjunkturindikatoren eignen.

Skepsis bezüglich Konjunkturerholung bleibt

Aus diesen Gründen bleiben die meisten Ökonomen wie wir hinsichtlich des Tempos der zu erwartenden Konjunkturerholung skeptisch. Da in den Notenbanken auch in erster Linie Volkswirte für die Geldpolitik verantwortlich sind (in der EZB mittlerweile viele Politiker), wundert es nicht, dass auch diese ein solches Szenario vertreten – und von daher eine nie dagewesene expansive Geldpolitik implementiert haben. Mit Blick auf die jüngsten Beschlüsse der US-amerikanischen Federal Reserve und der Europäischen Zentralbank fühlen wir uns an den Song „Major Tom“ aus dem Jahr 1982 erinnert, in dem es unter anderem heißt:

„… Experten streiten sich um ein paar Daten, die Crew hat da noch ein paar Fragen, doch der Countdown läuft. … Völlig losgelöst von der Erde, schwebt das Raumschiff (hier: die Geldpolitik) völlig schwerelos.“ [1]

Aufgrund der fehlenden Schwerkraft, die in der Ökonomie durch einen starken Aufschwung und die Rückkehr der Inflation gekennzeichnet wäre, ist davon auszugehen, dass die Niedrig- bzw. Nullzinsphase noch viele Jahre anhalten wird. Im Hinblick auf die Zinsentwicklung wurde aus einem „lower for longer“ erst ein „low for long“ und nun ein „low forever“. Oder anders ausgedrückt:

Wir befinden uns mittlerweile in der geldpolitischen Planwirtschaft.

Wann können wir mit höheren Zinsen rechnen?

Sowohl die US-Notenbank als auch die EZB haben deutlich gemacht, dass mit höheren Zinsen nicht vor dem Jahr 2023 zu rechnen ist. Mit den bisher gemachten Erfahrungen ist es jedoch selbst dann fraglich, ob der Geldpolitik der Ausstieg aus dem Krisenmodus gelingen wird. Die Europäische Zentralbank geht in ihren makroökonomischen Prognosen davon aus, dass die Inflationsrate von 0,3 Prozent in diesem auf 0,8 Prozent im nächsten Jahr und auf 1,3 Prozent im Jahr 2022 ansteigen wird. Damit wäre man immer noch weit vom selbst gesteckten Ziel (unter, aber nahe zwei Prozent) entfernt. Ähnlich sieht es bei der Fed aus, die von 2020 bis 2022 ebenfalls nur einen moderaten Preisanstieg erwartet (von 0,8 über 1,6 bis auf 1,7 Prozent).

Trotz Inflation lockere Geldpolitik zu erwarten

Aber selbst wenn die Inflationsrate wieder etwas stärker ansteigen sollte, werden die Notenbanken wohl aus zwei Gründen die geldpolitischen Zügel locker halten.

Ist eine höhere Inflation notwendig?

Zum einen könnten sie argumentieren, dass nach der langen Zeit der Zielunterschreitung eine Phase höherer Inflation tolerierbar und notwendig sei, um die vorhergehende jahrelange Verfehlung „auszugleichen“. Ein solches Argument birgt allerdings die große Gefahr in sich, dass die ohnehin angekratzte Glaubwürdigkeit der Notenbank noch mehr leiden könnte.

Der wesentlich wichtigere Grund, weshalb auch nach 2023 der Zinssozialismus fortgesetzt werden dürfte, ist die hohe Staatsverschuldung.

Denn auch wenn die EZB beteuert, dass ihre Geldpolitik mit dem Artikel 123 des Lissaboner-Vertrages kompatibel ist und ihr dies auch durch den EuGH bestätigt worden ist, setzt sie sich mit der Aufstockung des Notfallprogramms PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) um 600 auf 1.350 Milliarden Euro einem immer stärker werdenden Verdacht der monetären Staatsfinanzierung aus.

Wahrscheinlich um die hohe Staatsverschuldung zu finanzieren

Denn ob nun Zufall oder nicht: Die EZB hat in der Vergangenheit immer einen stärkeren Beitrag der Fiskalpolitik zur Bekämpfung der (strukturellen) Defizite gefordert. Während in den konjunkturell guten Jahren die Politik diese Bitte kontinuierlich ignoriert hat, wurde der Aufforderung zum Schuldenmachen diesmal unmittelbar nachgekommen. Den heutigen Prognosen zufolge wird die Staatsverschuldung in der Eurozone in diesem Jahr um rund 1.200 Milliarden Euro zunehmen.

Die Staatsverschuldung der Eurozone

Seit dem Beginn des PEPP im April 2020 hat die EZB pro Woche Anleihen in einem Volumen von gut 25 Milliarden Euro gekauft, davon zu 80 Prozent Staatsanleihen, 15 Prozent Commercial Paper und 5 Prozent Unternehmensanleihen. Behält sie diese Aufteilung bei, würden von den gesamten 1.350 Milliarden Euro des PEPP 1.080 Milliarden für Käufe von Staatsanleihen verwendet. Hinzu kommen die monatlichen Käufe im Rahmen des Asset Purchase Programme (APP), die sich in diesem Jahr auf 360 Milliarden Euro belaufen (ursprüngliches Volumen von 20 Milliarden Euro pro Monat, das im März aufgestockt wurde um weitere 120 Milliarden Euro bis zum Jahresende). Da das APP in den letzten Monaten ebenfalls zu rund 75 Prozent für den Ankauf von Staatsanleihen verwendet wurde, stehen insgesamt mehr als 1.300 Milliarden Euro bereit, mit denen die EZB Staatsanleihen kaufen wird.

Et voilà, damit ist die Finanzierung der gesamten Neuverschuldung in der Eurozone gesichert.

Ein Schelm, der hier an monetäre Staatsfinanzierung denkt. Und für den Fall der Fälle, hat die Notenbank bereits weitere geldpolitische Maßnahmen in Aussicht gestellt.

Allerdings befindet sich die EZB in bester Gesellschaft

Schließlich unterstützt selbst die ehrwürdige Federal Reserve mit ihrer Geldpresse die Neuverschuldung der USA, wobei sie im Vergleich zur EZB noch ein wesentlich größeres Rad dreht. Denn während die Europäische Zentralbank seit Ende März rund 35 bis 40 Milliarden Euro pro Woche in die Kapitalmärkte pumpt, hat die Fed auf dem Höhepunkt der Krise allein Staatsanleihen in einem Volumen von mehr als 350 Milliarden US-Dollar pro Woche gekauft. Nachdem die Panik an den Märkten wieder eingefangen wurde, sind die Käufe aber etwas abgeebbt. Im April wurden durchschnittlich 260 Milliarden US-Dollar an US-Treasuries gekauft, im Mai waren es noch gut 50 Milliarden US-Dollar, und zuletzt ist das Ankaufsvolumen auf rund 20 Milliarden US-Dollar gesunken.

Zukünftig will die Notenbank aber wieder mehr Geld in Anleihekäufe investieren.

Auf dem jüngsten FOMC-Meeting wurde beschlossen, dass monatliche Ankaufvolumen von US-Treasuries mit 80 Milliarden US-Dollar festzulegen. Hinzu kommen weitere Käufe von hypothekenbesicherten Wertpapieren (MBS) in monatlicher Höhe von 40 Milliarden US-Dollar.

Was bedeutet dies für Anleger?

Die Zinsen werden noch länger niedrig bleiben als ohnehin schon gedacht. Der Rentenmarkt verliert seine Funktion als „Markt“ im eigentlichen Sinn, weil mit den Notenbanken ein Käufer vorhanden ist, dem fundamentale Beweggründe für Käufe und Verkäufe letztlich egal sind. So unattraktiv die niedrigen Renditen für Anleger aussehen, das kluge Ausnutzen der auftretenden Schwankungen kann dennoch über eine rechtzeitige Verkürzung bzw. Verlängerung der Durationspositionierung zu ordentlichen Kursgewinnen führen. Aktives Anleihemanagement bleibt also Trumpf, dann haben festverzinsliche Wertpapiere auch weiterhin ihre Berechtigung in einem Portfolio.

Buy and hold ist dagegen out.

Erfolgversprechend kann es ein, einfach auf der Welle der Notenbanken mitzuschwimmen. Die Federal Reserve kauft beispielsweise auch ETFs von Unternehmensanleihen aus dem Investmentgradebereich und sogenannte Fallen Angels. Wer will, der findet sogar die Kennnummern der jeweiligen Wertpapiere auf der Webseite der Fed.[2]

Was ist mit Aktien?

Aber nicht nur für die Käufer von Anleihen gilt es, sich auf veränderte Marktgegebenheiten einzustellen, auch für die Käufer von Aktien kann es Sinn machen, sich opportunistisch zu verhalten und die Liquiditätsschwemme der Zentralbanken bei Anlageentscheidungen zu berücksichtigen. Denn die Unmengen an Liquidität sorgen dafür, dass viele Marktakteure die Fundamentaldaten aus dem Blick verlieren und sie somit den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Dies führt beispielsweise zu der grotesken Erkenntnis, dass der Kursaufschwung der vergangenen Wochen in den USA zu einem guten Teil von Privatanlegern verursacht wurde, die aufgrund eingehender staatlicher Einkommensschecks und gleichzeitig mangelnder Alternativen ihre Zeit genutzt haben, um Depots zu eröffnen und Aktien zu kaufen – insbesondere von Unternehmen, deren Kurse zu Beginn der Krise stark unter die Räder gekommen sind.

Doch wer allein auf die Liquidität als Argument für Aktienkäufe setzt und die Fundamentaldaten komplett aus dem Blick verliert, der muss aufpassen, dass es ihm am Ende nicht geht wie Major Tom:

„Die Erdanziehungskraft ist überwunden, alles läuft perfekt, schon seit Stunden. … Im Kontrollzentrum, da wird man panisch. Der Kurs der Kapsel, der stimmt ja gar nicht.“

Wer also den fundamentalen Kurs nicht halten kann, dem droht wie Major Tom, dass er aus der Bahn geworfen wird, obwohl seine Anlagestrategie lange Zeit gut und erfolgreich aussah.

[1] Wer eine kleine Zeitreise ins Jahr 1982 unternehmen möchte, der findet hier das Video zum Lied: https://www.youtube.com/watch?v=Rs4hUMltC1g

[2] https://www.federalreserve.gov/publications/reports-to-congress-in-response-to-covid-19.htm

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Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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