Die italienische Tragödie: Kommt es zum „Quitaly“?

Seit dem Sommer 2015, als die Mitgliedschaft Griechenlands in der Eurozone auf dem Spiel stand, ist die Eurokrise nach und nach aus den Schlagzeilen verschwunden. Dies lag zum einen an der Europäischen Zentralbank, deren Geldpolitik dafür gesorgt hat, dass sich alle Länder der Eurozone in den vergangenen Jahren zu noch nie dagewesenen Niedrigzinsen refinanzieren konnten. Zum anderen profitierten die Länder der europäischen Währungsunion von der Erholung der Weltwirtschaft, die der Eurozone im vergangenen Jahr das stärkste Wirtschaftswachstum seit dem Jahr 2007 bescherte. Doch nicht alle Volkswirtschaften profitierten im selben Ausmaß von diesem Aufschwung, stattdessen nahmen die vorhandenen Ungleichgewichte noch weiter zu. Dennoch spielte dies für die Kapitalmärkte lange Zeit keine Rolle, ehe die Politik die Ruhe unsanft beendete.

Gefährliches Regierungsprogramm

Wie schon im Jahr 2015, als in Griechenland die links-populistische Syriza-Partei unter der Führung von Alexis Tsipras die Parlamentswahlen gewann, steht nun aufgrund der Regierungskrise in Italien die Zukunft der Eurozone erneut zur Debatte. Auslöser der Turbulenzen ist die Absicht der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) zusammen mit der Lega, beides die Gewinner der Parlamentswahlen vom März 2018, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Nachdem sich die M5S vor der Wahl von ihren eurokritischen Standpunkten zunehmend distanziert hatte und die Position der Lega nicht ganz klar war, wogen sich die Kapitalmärkte auch nach der Wahl in Sicherheit, zumal ein Regierungsbündnis der beiden populistischen Parteien zunächst nicht geplant war.

Doch nachdem keine andere Koalition zustande gekommen ist, haben sich jüngst beide Parteien auf ein Zusammengehen verständigt. Mit ihrem Entwurf eines Regierungsprogramms ließen sie dann eine Bombe platzen, die die Kapitalmärkte heftig erschreckte: Eine der Forderungen, einen Schuldenerlass durch die EZB in Höhe von 250 Milliarden Euro, wurde zwar schnell wieder fallengelassen, doch auch die anderen Punkte haben es in sich. So wollen beide Parteien das Land mittels einer sehr expansiven Fiskalpolitik wieder auf Wachstumskurs bringen. Die Lega will ihre Wähler mit einer sogenannten Flat Tax beglücken, bei der der Steuersatz für die Einkommensteuer unter dem derzeitigen Eingangssatz von 23 Prozent liegen soll. Schätzungen zufolge dürfte dies zu Einnahmenausfällen für den italienischen Staat zwischen 50 und 80 Milliarden Euro führen, je nach tatsächlich beschlossenem Steuersatz.

M5S, die vor allem in Süditalien auf großen Zuspruch trifft, hat mit Blick auf ihre Wähler eine Art „Bürgereinkommen“ geplant, bei dem es sich aber nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen handelt, sondern um eine italienische Variante von Hartz IV. Die Kosten hierfür dürften sich auf knapp 20 Milliarden Euro belaufen. Beide Parteien wollen zudem die von der Monti-Regierung im Jahr 2011 beschlossene Rentenreform rückgängig machen und das Renteneintrittsalter wieder absenken. Die damit verbundenen Kosten betragen knapp 10 Milliarden Euro. Und nicht zuletzt soll die für nächstes Jahr geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer außer Kraft gesetzt werden. Auch dies führt zu Steuermindereinnahmen von rund 10 Milliarden Euro. Diese Pläne entsprechen im Grunde weitgehend dem, was auch die griechische Syriza-Partei 2015 ihren Wählern versprochen hat. Geschichte scheint sich also doch zu wiederholen.

Defizit von 7 bis 9 Prozent möglich

Rechnet man all diese Überlegungen zusammen, kommt man auf Gesamtkosten in einer Größenordnung von 90 bis 120 Milliarden Euro; dies entspricht einem Anteil von fünf bis sieben Prozent des italienischen BIP. Bislang sahen die Pläne für dieses und nächstes Jahr ein Haushaltsdefizit von knapp zwei Prozent vor. Ohne Einsparungen an anderer Stelle könnte das Defizit somit auf Werte von sieben bis neun Prozent in die Höhe schnellen.

Schuldentragfähigkeit muss in Frage gestellt werden

Dass bei einer Schuldenquote von 130 Prozent des BIP die zukünftige Schuldentragfähigkeit Italiens in Frage zu stellen ist, liegt auf der Hand. Hierzu reichen ein paar einfache Überlegungen aus: Die gleichgewichtige Schuldenquote eines Landes wird durch das Verhältnis des Haushaltssaldos in Relation zu seiner nominalen Wachstumsrate bestimmt. Dies lässt sich anhand der Maastricht-Kriterien verdeutlichen: Bei einem Haushaltsdefizit von drei Prozent und einem nominalen Wirtschaftswachstum von fünf Prozent ergibt sich im Gleichgewicht eine Schuldenquote von 60 Prozent. Das Hauptproblem Italiens liegt in erster Linie in seinem geringen Wachstum, das in den vergangenen Jahren nominal nur bei etwa zwei Prozent lag. Um die Schuldenquote von 130 Prozent stabil zu halten, kann sich Italien bei einem derart geringen Wachstum also nur ein Defizit von 2,6 Prozent leisten. Bei einem deutlich höheren Defizit, dass sich ergeben würde, wenn alle Wahlversprechen der Links- und Rechtspopulisten umgesetzt würden, braucht man kein Rechenkünstler zu sein, um zu dem Ergebnis zu gelangen, das Italien auf dem Weg wäre, Japan als Nation mit der höchsten Staatsschuldenquote (2017: 240 Prozent) abzulösen.

Bei einem Defizit von sieben Prozent und einem unveränderten Wachstum von zwei Prozent würde die Schuldenquote in Richtung 350 Prozent ansteigen. Eine solche Entwicklung ließe sich nur dann verhindern, wenn sich das Wachstum in Italien in den nächsten Jahren auf mehr als fünf Prozent beschleunigen würde. Doch wer will daran schon glauben?

Wie konnte es soweit kommen?

Immer wieder wird die Frage gestellt, wie Italien überhaupt in diese schwierige Situation geraten konnte. Nicht selten wird versucht, die Verantwortung für die eigene Lage bei anderen zu suchen. Wie vor drei Jahren in Griechenland gibt es auch jetzt in Italien Stimmen, die „dem Euro“ im Allgemeinen oder Deutschland im Speziellen die Schuld an der Misere geben. Häufig wird dabei aber übersehen, dass der Euro nach der deutschen Wiedervereinigung und im Zuge des europäischen Einigungsprozesses dafür sorgen sollte, eine mögliche wirtschaftliche Dominanz Deutschlands in Europa zu verhindern.

Zudem haben die deutschen Steuerzahler in den letzten Jahre zur Überwindung der Schuldenkrise fast 22 Milliarden Euro in den ESM eingezahlt sowie für knapp 170 Milliarden Euro Garantien übernommen. Für den EFSF garantiert Deutschland mit mehr als 200 Milliarden Euro. Hinzu kommen Target2-Forderungen in Höhe von mehr als 900 Milliarden Euro. Deutschland ein Interesse am wirtschaftlichen Niedergang anderer Länder innerhalb der Eurozone vorzuwerfen ist von daher mehr als abwegig, dafür steht viel zu viel auf dem Spiel. Fakt ist, dass Italien in einer Abwärtsspirale steckt, aus der es so gut wie kein Entrinnen gibt.

Italien schlägt den Weg Griechenlands ein

Im Moment sieht es für uns so aus, als ob das Land den Weg Griechenlands gehen wird. Die Bürger sind angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre enttäuscht vom „Establishment“ und vertrauen auf neue Parteien und Politiker, die ihnen versprechen, dass alles besser wird. Leider sind dies Versprechungen in der Realität nicht umzusetzen. Zudem steht die angekündigte Ausgabenpolitik von Lega und M5S im Widerspruch zur italienischen Verfassung. So heißt es beispielsweise in den Artikeln 81 und 97: „Der Staat gewährleistet unter Berücksichtigung der negativen und der positiven Konjunkturphasen die Ausgeglichenheit von Einnahmen und Ausgaben im eigenen Haushalt. Die Verschuldung ist lediglich zur Konjunkturberuhigung sowie – nach durch die beiden Kammern mit absoluter Mehrheit der jeweiligen Mitglieder erteilter Ermächtigung – bei Eintreten außerordentlicher Ereignisse zulässig.“ „Die öffentlichen Verwaltungen gewährleisten im Einklang mit der Ordnung der Europäischen Union die Ausgeglichenheit der Haushalte und die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung.“

Geht die neue italienische Regierung auf Konfrontationskurs zur EU, droht Italien dasselbe Schicksal wie Griechenland im Jahr 2015. Der Zugang zum Kapitalmarkt könnte verloren gehen, weil Anleger nicht mehr oder nur zu deutlich höheren Zinsen bereit sind, das Land zu finanzieren. Verliert Italien sein Investmentgrade-Rating, könnte die EZB die Staatsanleihen im Rahmen des QE-Programms nicht mehr kaufen. Hilfsprogramme, wie der ESM oder das OMT-Programm, sind mit Reformzusagen und einer Fiskalpolitik verknüpft, die im genauen Gegensatz zu dem stehen, was Lega und M5S versprechen.

Was bedeutet das für den Anleger?

Wie soll man sich als Anleger nun verhalten? Im günstigsten Fall setzt sich die Vernunft durch und die Situation beruhigt sich wieder, weil die italienischen Politiker erkennen, dass sie ihre Forderungen nicht durchsetzen können. Bevor es soweit kommt, könnte sich die Situation aber zunächst noch weiter zuspitzen, weil die Politiker erstmal ausloten werden, wie weit sie gehen können. Schwenkt eine neue italienische Regierung dann doch auf eine EU-konforme Politik ein, könnten sich die Aktienmärkte wieder beruhigen, da die wirtschaftlichen Rahmendaten nach wie vor günstig sind. Im Unterschied zu den früheren Krisenzeiten halten wir die Ansteckungsgefahren andere Länder für eher gering. Zwar neigen Anleger in einer ersten Reaktion häufig dazu, undifferenziert alles über einen Kamm zu scheren, doch sehen wir Spanien, Portugal und Irland heute in einer wesentlich stabileren Situation als es 2011/2012 oder auch noch 2015 der Fall gewesen ist; dies gilt selbst für Griechenland. Von daher sollten sich die Renditeaufschläge für Anleihen aus diesen Ländern nach und nach wieder zurückbilden.

Unsicherheit für europäische Aktien

Die europäischen Aktienmärkte könnten dagegen zunächst einmal unter einer längeren Phase der Unsicherheit leiden bis wirklich klar ist, welchen Weg Italien gehen wird. Insbesondere Banken und Versicherungen, die in größerem Umfang italienische Staatsanleihen halten, sollten genau beobachtet werden. Weniger Unsicherheit sehen wir dagegen bei den US-Aktien. Nicht nur, dass der US-Dollar einen Schutz vor einer politisch bedingten Euro-Schwäche bietet, auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind in den USA unverändert günstig. Zudem sind zuletzt die Renditen und der Ölpreis etwas gesunken, was der US-Wirtschaft zusätzlichen Rückenwind geben dürfte. Und während die Italien-Krise die europäischen Banken potenziell weiter schwächt, profitieren die US-Banken von einer besseren Eigenkapitalausstattung und einer geringeren Regulierung.

Langfristig kaum Alternativen zu Schuldenschnitt oder ESM-Geldern

Doch eines sollte nicht vergessen werden: Auch wenn sich die Situation wieder beruhigt, bleibt das grundsätzliche Problem einer zu hohen Verschuldung Italiens bestehen. Spätestens in der nächsten wirtschaftlichen Krise dürfte uns dieses Thema wieder einholen. Das bedeutet nicht, dass ein Austritt des Landes aus der Eurozone dann unumgänglich sein wird. Aber ohne einen partiellen Schuldenerlass und/oder die Inanspruchnahme von Mitteln aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM wird das Italien-Thema kaum zu lösen sein.

Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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