Die Corona-Rallye: Verstehen Sie schon oder staunen Sie noch?

An Märkten entstehen Kurse, indem Millionen von Investoren über Kauf- und Verkaufentscheidungen indirekt miteinander kommunizieren. Natürlich spielen hier zuweilen auch Angst und Gier eine Rolle, und man sollte daher als einzelner Investor nicht die Erwartungshaltung haben, jede Bewegung an den Märkten verstehen zu können. Dementsprechend gibt es immer wieder auch Tage, an denen man mehr oder weniger über die Entwicklung staunen muss. Warum wir uns aktuell wundern.

Montag war so ein Tag, warum wir uns aktuell wundern

Der DAX legte so stark zu wie sonst in einem normalen Jahr – und zwar 5,6%. Als wäre das für sich genommen nicht schon erstaunlich genug, geschah das vor dem Hintergrund zunehmend dunkler werdender Konjunkturperspektiven. Inzwischen wird es immer wahrscheinlicher, dass eine große Zahl bedeutender Volkswirtschaften im zweiten Quartal um 10% oder mehr schrumpfen wird, was historisch einmalig sein dürfte. Offensichtlich hält das aber immer weniger Investoren davon ab, mit Mut und Zuversicht nach vorne zu schauen und Aktien zu kaufen.

Sollte man seine eigene Position überdenken?

Damit ist nun für eher skeptische Zeitgenossen der Punkt erreicht, die eigene Position zu hinterfragen und zu überlegen, ob man möglicherweise einen Puzzlestein in der aktuellen Gemengelage übersehen haben könnte, der die gewaltige Aufholjagd an den Börsen tatsächlich auch fundamental rechtfertigt. Also versetzen wir uns doch einmal in die Gedankenwelt eines Investors, der am Montag Aktien gekauft hat.

Die Aktien wurden sicher nicht gekauft, weil sie günstig erscheinen.

Die Gewinnschätzungen befinden sich immer noch mehr oder weniger im freien Fall – wenn sich dieser Trend noch einige Monate fortsetzt, und die Kurse ab jetzt nicht mehr steigen, schießt das KGV im S&P 500 mit einem rollierenden 12-Monats-Blick auf die Gewinne des laufenden und nächsten Fiskaljahres leicht auf 22 Punkte oder mehr. Das ist mit Ausnahme des Jahres 2000 der höchste Wert der letzten 20 Jahre, und das mitten in der schärfsten Rezession seit dem zweiten Weltkrieg.

Gleiches Bewertungsbild für Europa

Für Europa zeichnet sich bewertungstechnisch ein ähnliches Bild, womit Bewertungsaspekte als Kaufgrund definitiv ausscheiden. Aber vielleicht ist das genau der Punkt: In einer Welt, in der Staaten und Notenbanken die Wirtschaft mit Liquidität schon fast zwangsbeatmen, verlieren Bewertungsüberlegungen an Bedeutung. Und gerade in einer Rezession, die nicht wie ein symmetrisches V verläuft, sondern eher eine langgezogene Erholung erwarten lässt, sind über lange Zeit tiefe Zinsen und Renditen zu erwarten.

Ist die Pandemie Auslöser für eine Staatsschuldenkrise?

Und dann ist ohnehin nicht mehr ganz klar, was überhaupt noch eine faire Bewertung wäre, denn dann wäre die Summe zukünftiger Gewinne aufgrund der fehlenden Abzinsung gigantisch hoch, was wiederum eine sehr hohe Marktkapitalisierung der Unternehmen rechtfertigen würde. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen. Angenommen, man vertritt die These, dass die Corona-Pandemie als Auslöser für eine nachgelagerte; veritable Staatsschuldenkrise fungieren könnte. Dann wären Staaten (noch mehr als zuvor) an einer Art finanzieller Repression interessiert, die darauf abzielt, Sparer und Geldanleger schleichend zu enteignen und den Staat über Inflation real zu entschulden.

Auch hier spielt die Niedrigzinspolitik eine zentrale Rolle

In diesem Fall aber mit dem (möglicherweise unausgesprochenen) Ziel, die Inflation für längere Zeit auf ein überdurchschnittliches Niveau zu heben. Auch hier wäre man als Aktionär nicht schlecht aufgestellt, denn Gewinne sind nominale Größen; eine Geldentwertung hebt die Gewinne in ähnlichem Umfang wie die Inflation.

Mit Aktien müsste man sich damit real mehr oder weniger gut vor Inflation schützen können.

Wenn sich dann noch, wie am Montag, die Nachrichtenlage durch kleine Erfolge in der Impfstoffentwicklung aufhellt und Frankreich und Deutschland den nächsten Mega-Rettungsfonds an den Start bringen wollen, dann überrascht es dann vielleicht doch nicht, wenn die Aktienmärkte ein riesiges Fest feiern. Aber wie im echten Leben kommt nach großen Festen, wenn man es beim Feiern ein wenig übertrieben hat, der Kater.

Warum wir drohende Insolvenzen fürchten sollten?

In diesem Fall ist es aber nicht der Alkohol, sondern die drohenden Insolvenzen, vor denen man sich als Investor fürchten sollte. Denn spätestens bei drohenden Insolvenzen hilft keine finanzielle Repression, keine Inflation und kein Negativzins mehr. Und neben erwarteten Gewinnen preist der Markt immer auch erwartete Insolvenzwahrscheinlichkeiten ein. Im Moment scheinen mit Blick auf die Kurscharts der letzten Wochen diese Insolvenzwahrscheinlichkeiten aber eher noch gering zu sein. Wir haben auch keinen Zweifel daran, dass die Indexschwergewichte in Europa, den USA und Asien diese Krise überleben werden.

Unsere Sorge gilt eher den Werten aus der zweiten und dritten Reihe.

Erst wenn klar wird, dass Konsumenten sich auch dann noch im Konsum zurückhalten werden, wenn vielleicht schon ein Impfstoff in Sicht ist, und dass Familien auch dann noch auf Reisen verzichten, wenn sie eigentlich schon wieder reisen dürften, werden Insolvenzrisiken vernünftig eingepreist werden.

Wirtschaft mit Schleifspuren

Es ist absurd zu glauben, dass ein dramatischer, simultan weltweit stattfindender Anstieg der Arbeitslosigkeit innerhalb weniger Wochen sowie ein nie dagewesener Abriss der Einzelhandelsumsätze keine Schleifspuren in Form von Insolvenzen hinterlassen wird. Das betrifft dann nicht Netflix, Amazon und Co, aber dafür viele kleinere Unternehmen, die zusammen eben doch mehr als 50% der Marktkapitalisierung von Indizes ausmachen können. Dabei geht es auch weniger darum, dass die Firmen tatsächlich alle in die Insolvenz rutschen – entscheidend für die Märkte ist vielmehr, dass es zu einer Änderung der Einschätzung für die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz kommt. Und wenn diese Wahrscheinlichkeit auch nur für einen Teil der Unternehmen von fünf auf zehn Prozent nach oben revidiert wird, dürfte dies schon für ein kleines Beben an den Börsen sorgen.

Negativer Produktivitätsschock

Es existiert übrigens noch ein Aspekt, der das Potenzial hat, einen Kater bei Investoren zu verursachen. Dabei geht es um den negativen Produktivitätsschock, der gerade um sich greift und vermutlich auch noch einige Zeit der Wirtschaft zu schaffen macht. Die Produktivität ergibt sich aus der Wertschöpfung, die durch den Einsatz von Arbeit entsteht. Im Moment geht nicht nur der Einsatz von Arbeit deutlich zurück – auch der Output pro Stunde sinkt durch vielfache „Hindernisse“. Das beginnt mit den Unzulänglichkeiten, die die Arbeit im Home Office mit sich bringen und hört noch lange nicht bei fehlerhaften Lieferketten auf.

Der größte Produktivitätstreiber der letzten Jahrzehnte war vermutlich die Globalisierung.

Auch hier ist in den nächsten Jahren eher mit Rückschritten und weniger mit Fortschritten zu rechnen, da die Produktion nach den Erfahrungen der letzten Monate eher wieder lokaler und weniger global erfolgt.

Entschleunigung der Wirtschaft

Zudem spricht viel für zurückhaltende Investitionsentscheidungen der Unternehmen, mit entsprechenden Folgen für die Geschwindigkeit des technologischen Wandels und damit für eine weitere Entschleunigung im Produktivitätswachstum. Nun ist es aber so, dass Aktienmärkte eine Entschleunigung im Produktivitätswachstum nicht mögen.

Auch das spricht dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen werden.

Und auch wenn wir zum Teil die Gründe verstehen, warum Investoren von Tat zu Tag ein wenig mutiger werden: Wir geben gerne zu, auch immer noch ein wenig über die Entwicklung zu staunen. Denn das Ausklammern und Wegdefinieren von Risiken war in der Vergangenheit kein guter Ratgeber an Kapitalmärkten.

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Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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