Deutschland in der Mentalitätskrise

Deutschland befindet sich in einer schwierigen Lage, darüber sind sich die meisten Menschen in diesem Land einig. Die Ursachen dieser Krise sind ausführlich und gut analysiert und die am häufigsten gehörte These ist, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden. Zu hohe Energiepreise, zu hohe Steuern und Abgaben, , ein großes Digitalisierungsdefizit in der öffentlichen Verwaltung, eine überbordende Bürokratie und Regulierung sowie eine dramatische Verschlechterung des allgemeinen Bildungsniveaus sind nur einige Komponenten der deutschen Misere.

Hinzu kommt die starke Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom Wohlergehen der Industrieunternehmen einerseits und vom Export im Allgemeinen und von China im Besonderen andererseits. Das alles ist gut und richtig analysiert. Wir haben kein Erkenntnisproblem, jedoch ein Umsetzungsproblem, wie wir diese Probleme beheben können.

Verbraucher sehen schwarz

Ein neutraler Blick auf die makroökonomischen Kennziffern lässt aber auch erkennen, dass bei uns nicht alles schlecht ist.

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist so niedrig wie in kaum einem anderen westlichen Industrieland, auch beim Pro-Kopf-Einkommen liegt Deutschland wie in den vergangenen 30 Jahren unter den Top 20.

Zudem hat Deutschland im vergangenen Jahr erstmals Japan in der Rangliste der größten Wirtschaftsnationen überholt und vom dritten Platz verdrängt, auch wenn dies zu einem großen Teil auf die Schwäche der japanischen Währung zurückzuführen ist (die Wirtschaftsleistung eines Landes wird zur besseren Vergleichbarkeit in US-Dollar gemessen). Dennoch ist die Stimmung sowohl bei den privaten Haushalten als auch bei den Unternehmen so schlecht wie schon lange nicht mehr.

Stimmungbild während der Corona-Pandemie besser als heute

Selbst auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie war die Stimmung der deutschen Verbraucher besser als heute. Betrachtet man die einzelnen Komponenten der Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), so drängt sich der Eindruck auf, dass die Antworten und Urteile der Befragten wenig mit der ökonomischen Realität zu tun haben, die sich in den veröffentlichten Zahlen und Daten widerspiegelt.

So fällt beispielsweise auf, dass die privaten Haushalte ihre Einkommenserwartungen sehr negativ einschätzen, und dies trotz beachtlicher Einkommenszuwächse in den letzten drei Jahren (Bruttolöhne +17 Prozent, netto +19 Prozent, Masseneinkommen, also Nettoeinkommen plus staatliche Transfers, +16 Prozent). Auch bei den Erwartungen an die weitere Preisentwicklung oder bei der Einschätzung der künftigen Lage auf dem Arbeitsmarkt überwiegen – ganz im Gegensatz zu den meisten Prognosen von Ökonomen und Wirtschaftsforschern – die negativen oder skeptischen Stimmen.

Fehlender sozialer Frieder als mögliche Erklärung des Stimmungbildes

So ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass in Deutschland der soziale Frieden, der lange Zeit ein Aushängeschild unseres Landes war, gefährdet ist. Das zeigt sich in Streiks, hohen Krankenständen und vielen Protestaktionen unterschiedlichster Interessengruppen. Viele fühlen sich benachteiligt und meinen, sie müssten ein größeres Stück vom Kuchen abbekommen, weil es anderen vermeintlich besser geht als ihnen selbst. Kürzlich wurde berichtet, dass die Mehrheit der Deutschen wegen der höheren Preise seltener ins Restaurant geht.

Aber haben Sie schon einmal versucht, abends spontan einen Tisch zu bekommen?

Selbst mittags sind viele Restaurants – zumindest in den Innenstädten – gut besucht, von Konsumzurückhaltung ist wenig zu spüren. Auch Reisen sind teurer und damit eigentlich auch unerschwinglicher geworden. Dennoch liegen die Buchungszahlen für diesen Sommer bei vielen Reiseveranstaltern trotz vermeintlich knapper Budgets deutlich im Plus.

Stimmung schlechter als die Lage

Doch nicht nur bei den Verbrauchern, auch bei den Unternehmen in Deutschland ist die Stimmung schlecht. Der ifo-Geschäftsklimaindex, der wohl wichtigste deutsche Frühindikator für die wirtschaftliche Verfassung des Landes, dümpelt seit geraumer Zeit auf Rezessionsniveau vor sich hin. Früher ließ sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland mit diesem konjunkturellen Frühindikator vergleichsweise gut erklären, inzwischen ist das nicht mehr der Fall. Gemessen an den Umfrageergebnissen müsste sich Deutschland in einer schweren Rezession und nicht in einer wirtschaftlichen Stagnationsphase befinden.

Scheinbar hohe Energiepreise als Belastung für Unternehmen

Vor allem in der Industrie klagen viele Unternehmen über die hohen Energiepreise, die ihre Wettbewerbsfähigkeit belasten. Energieintensive Unternehmen nehmen dies zum Anlass, dem Standort Deutschland den Rücken zu kehren oder dies zumindest in Erwägung zu ziehen; es droht eine Deindustrialisierung. Eine Prognos-Studie vom Herbst 2023 kommt zu dem Ergebnis, dass die Energiepreise in Deutschland und Europa höher sind als in Asien und Amerika, im europäischen Vergleich liegen die Preise etwa im Mittelfeld.

Bis 2030 wird jedoch ein deutlicher Preisrückgang erwartet. Bereits in den letzten Monaten sind die Börsenpreise für Strom und Gas deutlich gesunken. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Energiepreise um rund 30 Prozent günstiger, im Vergleich zum Jahr 2022 sogar um mehr als 70 Prozent. Damit hat sich die absolute Kostenbelastung deutlich verringert.

Zudem hat die Bundesregierung im vergangenen Herbst ein Strompreispaket beschlossen, das unter anderem eine deutliche Senkung der Stromsteuer sowie eine zusätzliche Strompreiskompensation für besonders energieintensive Unternehmen vorsieht. Mit diesen Maßnahmen könnten die deutschen Strompreise laut Prognos von rund 20 Cent pro Kilowattstunde im Herbst 2023 auf vier bis fünf Cent pro Kilowattstunde im Jahr 2030 sinken und damit das niedrigste Niveau in Europa erreichen. Selbst für Unternehmen, die nicht von der zusätzlichen Strompreiskompensation profitieren, könnte der Strompreis bis 2030 auf acht bis zehn Cent sinken und damit ein Niveau erreichen, das heute in Ländern wie den USA und China zu finden ist, die international die niedrigsten Strompreise aufweisen.

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Raus aus dem Jammertal!

Trotz dieser positiven Entwicklungen herrscht bei uns vielerorts Schwarzmalerei. Und auch der Blick von außen auf unser Land ist derzeit meist negativ. Einstmals deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Beharrlichkeit beim Erreichen selbst gesteckter Ziele sind uns in letzter Zeit abhandengekommen.

Deutschland im Streik- und Protestmodus

Stattdessen ist Deutschland „Streikland“ und „Protestland“. Schauten wir früher mitleidig auf andere Länder, in denen Bauern, Arbeiter und Angestellte aus den verschiedensten Berufszweigen regelmäßig das öffentliche Leben lahmlegten, gehört es bei uns mittlerweile zum Standard, dass jede Woche irgendwo im Land zum Streik aufgerufen wird. Mal geht es um mehr Lohn, mal um kürzere Arbeitszeiten, mal – so der Eindruck – einfach nur um das Ego des oder der Vorsitzenden der jeweiligen Tarifpartei. Mehr Lohn bei kürzerer Arbeitszeit ist ein Vorschlag, über den man als Ökonom nur den Kopf schütteln kann. Denn unser Wohlstand muss erarbeitet werden, er fällt nicht vom Himmel, auch wenn so manche Gewerkschaft ihren Mitgliedern diesen Eindruck zu vermitteln versucht. Klar ist aber auch, dass es sich für die Arbeitnehmer lohnen muss, (mehr) zu arbeiten.

Steuerreform zur Verbesserung der Standortattraktivität

Einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Standortattraktivität Deutschlands könnte eine umfassende Steuerreform leisten. Weder unter Bundeskanzlerin Merkel noch unter Bundeskanzler Scholz ist hier in den letzten Jahren etwas Positives geschehen.

Das Problem ist jedoch, dass eine Steuerreform zu Mindereinnahmen des Staates und damit zwangsläufig zu einer zumindest kurzfristig höheren Staatsverschuldung führt.

Mit den Regeln der Schuldenbremse, die sich der deutsche Staat aufgrund des starken Anstiegs der Schuldenquote im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 selbst auferlegt hat, ist dies jedoch nicht möglich. Der Bund hat einen um konjunkturelle Einflussfaktoren bereinigten minimalen Verschuldungsspielraum von 0,35 % des BIP, für die Länder gilt ab 2020 die Vorgabe strukturell ausgeglichener Haushalte.

Berechtigte Zweifel an der Schuldenregeln

Die Sinnhaftigkeit dieser Schuldenregel darf bezweifelt werden. Angesichts der europäischen Schuldenkrise, die seinerzeit Länder wie Griechenland, Irland, Spanien, Italien und Portugal hart getroffen hatte, wollte die deutsche Politik ihren Bürgern signalisieren, dass man künftig wieder eine vernünftige und seriöse Ausgabenpolitik betreiben wolle. Mit den Maastricht-Kriterien eines jährlichen Haushaltsdefizits von maximal drei Prozent des BIP und einer Staatsschuldenquote von maximal 60 Prozent des BIP gibt es aber bereits Regeln, die eine ausufernde Verschuldung verhindern sollen.

Die zusätzliche Schuldenregel ist, wie so vieles in Deutschland, ein weiteres Regelungetüm: kompliziert zu berechnen und selbst für Expertinnen und Experten intuitiv kaum nachvollziehbar. Das fängt bei der Frage an, wie genau eine „nominale Produktionslücke“ für ein bestimmtes Haushaltsjahr zu bestimmen ist, und endet bei dem Begriff der „Budgetsemielastizität“, die von der EU-Kommission alle paar Jahre neu berechnet wird. Wer sich für die Details interessiert, dem sei das „Kompendium zur Schuldenregel des Bundes (Schuldenbremse)“[1] zur Lektüre empfohlen. Wer bisher unter schlaflosen Nächten gelitten hat, dem kann mit dieser Abhandlung geholfen werden.

Abschaffung der Schuldenbremse und eine angemessene Steuerreform notwendig

Die Grundidee der Schuldenbremse war, dass eine geringe Staatsverschuldung die Grundlage dafür ist, die Zinslast im Staatshaushalt niedrig zu halten und damit mehr Spielraum für andere Ausgaben zu haben. Zudem hätten Länder mit geringerer Verschuldung bzw. einer Schuldenregel auch ein höheres Wirtschaftswachstum. Dem ist entgegenzuhalten, dass es dem Kapitalmarkt überlassen werden sollte, die Höhe eines angemessenen Zinssatzes zu bestimmen. So hat Deutschland mit einer Schuldenquote von 65 Prozent des BIP eine Zinslast (Zinsen im Verhältnis zum BIP) von rund einem Prozent. In Japan mit einer Schuldenquote von 250 Prozent des BIP beträgt die Zinslast dagegen nur 0,5 Prozent.

Auch die These, dass eine geringere Verschuldung zu mehr Wirtschaftswachstum führt, steht auf sehr wackeligen Beinen.

So weist Deutschland mit seiner im internationalen Vergleich niedrigen Staatsverschuldung leider auch ein im internationalen Vergleich sehr niedriges Wachstum auf, anders als etwa die USA (Schuldenquote: 122 Prozent, Wirtschaftswachstum 2023: 2,5 Prozent), Spanien (108 Prozent und 2,5 Prozent) oder Portugal 103 Prozent und 2,3 Prozent).

Mehr Wachstum ist also auch mit einer höheren Verschuldung möglich, die Abschaffung der Schuldenbremse und eine Steuerreform, die diesen Namen verdient, könnten uns wieder auf den richtigen Weg bringen.

Dazu müssen aber die vielen Bedenkenträger in diesem Land über ihren Schatten springen. Wie hieß es doch schon im „7. Sinn“, der beliebten Verkehrserziehungssendung, die von 1965 bis 2005 in der ARD ausgestrahlt wurde: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. In diesem Sinne: Nicht nur reden, sondern endlich auch mal handeln!

Foto von Unsplash von Free Walking Tour Salzburg


[1] https://www.bundesfinanzministerium.de/

Autor: Carsten Klude

Carsten Klude studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank VWL mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu M.M.Warburg & CO, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte und später mit der Leitung des Makro-Research betraut wurde. Seit dem Jahr 2009 ist Herr Klude Mitglied im Investmentrat von M.M.Warburg & CO und verantwortet seit dem Sommer 2013 das Asset Management der Bank. Zusätzlich ist Herr Klude seit dem Jahr 2010 Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken e.V., dessen Vorsitz er von 2015 bis 2018 inne hatte.

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