Der Merkel-Macron-Plan: Die übersehene Zeitenwende

Manchmal gibt es Sachverhalte und Entwicklungen, die angesichts der überwältigenden Nachrichtenflut nicht hinreichend gewürdigt, besprochen und analysiert werden. Welche, erfahren Sie in diesem Beitrag.

Die aktuelle Situation

Angesichts der fast surrealen Aufholjagd an den Aktienmärkten und dem noch surrealeren Umgang der US-Regierung mit den Protesten im Kontext der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizisten wird beispielsweise kaum noch wahrgenommen, dass sich innerhalb einer Woche weltweit 770.000 Menschen neu mit dem Corona-Virus angesteckt haben – das Maximum seit Anfang der Krise!

Das mag viele überraschen, da die Krise schon fast überwunden scheint;

Diese Fehleinschätzung ist aber letztlich dem Umstand geschuldet, dass der Blick der Medien i.d.R. auf Europa, die USA und China beschränkt ist, während die Entwicklungen in Schwellenländern keinen zu interessieren scheinen.

Welche Nachrichten haben wir bisher übersehen?

Ein vielleicht noch besseres Beispiel für einen zeitweise verengten Blickwinkel ist die bisherige Rezeption des Merkel-Macron-Plans in der deutschen Öffentlichkeit. Denn die Initiative hat das Zeug dazu, die Keimzelle für eine Zeitenwende in der Konstruktion der Europäischen Union zu sein. Aber der Reihe nach. Nachdem sich Deutschland Jahrzehnte standhaft geweigert hatte, Euro-Bonds mit einer gemeinschaftlichen Haftung zu akzeptieren, schlagen Merkel und Macron nun ein Konzept vor, das de facto einen ersten Schritt in eine Haftungsunion darstellt.

Der Merkel-Macron-Plan im Detail

Der Bundeskanzlerin und dem französischen Präsidenten schwebt ein Fonds mit einem Volumen von 500 Mrd. Euro vor. Frankreich hätte lieber ein deutlich größeres Volumen gesehen, aber auch 500 Mrd. Euro sind nicht von schlechten Eltern – des Bundeshaushalt betrug im Jahr 2019 beispielsweise „nur“ 360 Mrd. Euro.

Diese 500 Mrd. Euro sollen nun dadurch bereitgestellt werden, dass der EU-Haushalt an den Kapitalmärkten diese Summe aufnimmt.

Damit die Rendite dieser Anleihen in der Nähe der Rendite von Bundesanleihen liegt, sollen die Mitgliedsländer die Anleihen garantieren und später auch zurückzahlen. Für sich genommen ist schon dies ein Novum.

Warum Deutschland bisher dagegen war

Richtig problematisch wird es aber spätestens, wenn man bedenkt, dass aus diesem Fonds nicht zusätzliche Darlehen an Länder gespeist werden sollen, sondern nicht rückzahlbare Transferzahlungen und Projektzuschüsse. Eigentlich war das bisher verboten. Und da diese Konstruktion das Tor zu einer gemeinsamen Haftung für EU-Schulden sowie zu einer Transfer- und Fiskalunion mehr als ein Stück weit aufmacht, war Deutschland bisher strikt gegen eine solche Lösung. Umso verwunderter schauen jetzt andere Länder irritiert nach Deutschland und fragen sich, welcher Umstand Merkel zu einer solchen 180-Grad-Wende veranlasst haben könnte.

Gründe für die Kehrtwende

Eine mögliche Erklärung wäre die, dass die Bundeskanzlerin zunehmend erkennt, wie wichtig Europa für Deutschland ist und dementsprechend einige Kröten geschluckt werden müssen. Schließlich entwickeln sich die USA – um es höflich zu formulieren – zu einem immer weniger verlässlichen Partner, und China ist als Diktatur kein adäquater Ersatz für die taumelnde (ehemalige) Supermacht USA. Ein anderer Grund wäre etwas pragmatischerer Natur. Vielleicht hat die Bundeskanzlerin einfach erkannt, dass Widerstand zwecklos ist, nachdem Deutschland mit Großbritannien in solchen Fragen einen wichtigen Bündnispartner verloren hat und die südlichen Länder nun über eine strukturelle Mehrheit verfügen, gegen die man sich langfristig ohnehin nicht durchsetzen kann.

Wurde der Druck zu groß?

Eine noch einfachere, aber ebenfalls vermutlich nicht ganz abwegige Erklärung wäre die, dass der Druck in den Verhandlungen einfach zu groß wurde. Die Kanzlerin hat auch eine gewisse Übung darin, unter großem Druck elegante Kehrwenden hinzulegen, als wenn gar nichts gewesen wäre. Ein gutes Beispiel ist ihre Reaktion nach dem Fukushima-Vorfall. Während Merkel jahrelang (nicht ganz zu Unrecht) die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke gepriesen hatte, reichte die Havarie eines Steinzeitreaktors, um in Deutschland den schnellen Ausstieg aus der Kernenergie einzuleiten. Auch in der Flüchtlingskrise kam es zu einer geschmeidigen Richtungsänderung;

Während im Frühling 2015 noch auf begrenzte Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen verwiesen wurde, hieß ein es paar Wochen später: „Wir schaffen das“.

Verzweiflung südeuropäischer Staaten

Dabei besteht nicht der geringste Zweifel, dass zumindest hinter den Kulissen der Druck auf Deutschland in der Corona-Krise fast unerträglich groß geworden sein muss. Vor allem die südeuropäischen Staaten sind in den letzten Monaten an den deutschen Positionen und Prinzipien zunehmend verzweifelt. Das liegt aber nicht an objektiv fehlerhaften deutschen Positionen – ganz im Gegenteil.

Das Problem liegt tiefer; es existieren einfach sehr grundlegend unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die EU sowohl fiskalpolitisch als auch geldpolitisch konstruiert sein sollte.

Diese Differenzen bestanden schon immer, doch sind die damit einhergehenden Sollbruchstellen in der aktuellen Corona-Krise wieder besonders deutlich zu Tage getreten. Während beispielsweise die südeuropäischen Länder eher einen aktionistischen Ansatz mit einem kürzeren zeitlichen Horizont präferieren, dominiert im deutschen Denken eher die sog. „Ordnungspolitik“ mit einem sehr langfristigen Zeithorizont, der sich durchaus über Jahrzehnte erstrecken kann.

Die deutsche Ordnungspolitik

Bei der Ordnungspolitik geht es darum, eine Wirtschaftsordnung so zu konstruieren, dass sie langfristig die besten Anreize setzt, um den Wohlstand zu maximieren. Dabei präferiert man eher eine geringe Eingriffsintensität des Staates gegenüber einer hohen Eingriffsintensität, und dezentrale Lösungen werden zentralen Lösungen vorgezogen.

Eingriffe, die kurzfristig günstige Effekte haben können, langfristig aber Anreize verzerren oder zu einer suboptimalen Verwendung von Kapital führen, werden kritisch gesehen oder abgelehnt.

Da ist es kein Wunder, dass viele deutsche Volkswirte bisher vor einer Vergemeinschaftung von Schulden warnten, da hier politische Entscheidungen und politische Verantwortung nicht unbedingt deckungsgleich sind – mit teilweise fatalen Anreizwirkungen für Politiker und am Ende für ganze Volkswirtschaften.

Die stetig steigende Staatsverschuldung

Wenn in den nächsten Wochen nicht ein kleines Wunder geschieht, werden diese Bedenken nur noch einen historischen Wert aufweisen, da nach fast 30jährigem Ringen diese Positionen nun bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht worden sind. Für den politischen Zusammenhalt muss das zunächst gar nicht schlecht sein, für die Entwicklung der langfristigen volkswirtschaftlichen Wohlfahrt aber durchaus.

So ist nun zu erwarten, dass der Stabilitätspakt endgültig seine limitierende Wirkung auf die Staatsverschuldung verloren haben wird;

Es dürfte von nun an mit einer stetig steigenden Staatsverschuldung auf europäischer Ebene zu rechnen sein. Länder, die sich hier bisher zurückgehalten haben, dürften von dieser verschuldungstechnischen Zurückhaltung wahrscheinlich nur noch bedingt profitieren, da sie in Zukunft dazu aufgerufen sein werden, aus Gründen der „Solidarität“ einen größeren Teil der Nettoneuverschuldung der EU zu finanzieren oder zu garantieren.

Mechanismen des Kapitalmarkts ausgeschaltet

Unter normalen Bedingungen würde diese Entwicklung vom Kapitalmarkt in Form steigender Renditen für Staatsanleihen mit scharfem Protest versehen werden und damit die Politik wieder einbremsen. Wie praktisch, dass der Markt für Staatsanleihen mehr oder weniger in seinen Mechanismen ausgeschaltet wurde, indem die EZB nahezu nach Belieben Anleihen kauft und sich auch durch höchstkritische Urteile von obersten Gereichten nicht mehr zurückschrecken lässt, sondern diese eher hämisch kommentiert.

Wie zum Beweis hat die EZB ihr jüngstes Aufkaufprogramm mit dem flotten Namen PEPP heute nochmals massiv aufgestockt.

Die den Märkten zufließende Liquidität dürfte zumindest kurzfristig auch Aktien weiter unterstützen und damit einen erneuten scharfen Rückschlag verhindern oder zumindest abfedern. Das ist für Investoren erfreulich. Wir machen uns trotzdem Sorgen um den Preis, den wir alle für diese Zeitenwende zahlen werden.

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Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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