Werden die USA jetzt zum Epizentrum der Coronakrise?

Die Coronakrise entwickelt sich weltweit weiterhin dynamisch, was die Zahl der Neuinfektionen betrifft. Wir befinden uns immer noch in der Phase des exponentiellen Wachstums – einer Phase, die von Menschen weniger gut verstanden, da sie nicht typischen Lebenserfahrungen entsprechen. Wie geht es in den kommenden Tagen weiter? Wir haben einige Szenariorechnungen angestellt, darunter: wie viele Menschen bis Ende des Jahres in den USA an der Infektion COVID-19 sterben könnten.

Selbst Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik sind immer wieder überfordert, wenn es darum geht, die Konsequenzen exponentieller Wachstumsprozesse richtig einzuordnen. Um die Dramatik der letzten Wochen zu veranschaulichen, haben wir in einer ersten Grafik nur die Entwicklung der weltweiten Corona-Infektionen (ex-China) bis zum 12.03.2020 aufgezeigt.

In der folgenden Grafik findet sich die gesamte Entwicklung einschließlich der knapp zwei Wochen vom 13.3. bis heute.

Der Verlauf der Kurve erscheint auf den ersten Blick ähnlich dramatisch;

das ganze Ausmaß der Krise offenbart sich aber erst, wenn man sich darüber klar wird, dass der Verlauf der ersten Grafik in das kleine schmale Rechteck der zweiten Grafik passt.

Nichts deutet darauf hin, dass es bei globaler Perspektive zu einer Abflachung kommt.

In den letzten Tagen war die globale Wachstumsrate von Tag zu Tag vergleichsweise konstant. Allerdings gibt es von Region zu Region und von Land zu Land teilweise erhebliche Unterschiede. Zum einen finden die Entwicklungen phasenverschoben statt. Gleichzeitig kann je nach staatlicher Eingriffsintensität und „Kooperation“ von Bürgern hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen eine große Bandbreite an Wachstumsraten bei der Zahl der Infizierten festgestellt werden.

So zeigen unsere Berechnungen, dass vor allem die USA eine vergleichsweise hohe Dynamik in der Wachstumsrate aufzeigen.

Deutschland befindet sich – nebenbei bemerkt ­- in dieser Betrachtung auch auf einer kritischen Position; dies mag aber damit zusammenhängen, dass in Deutschland die Zahl der Tests weiter massiv nach oben gefahren wird und damit die „Dunkelziffer“ bei den Infizierten eher kleiner wird. Es gibt Hinweise darauf, dass in Deutschland pro Einwohner bisher kumuliert um den Faktor 5 – 10 mehr getestet wurde als in den USA.

Wir sind uns auch bewusst darüber, dass aufgrund der unterschiedlichen Testintensitäten in den verschiedenen Ländern die jeweiligen offiziellen Fallzahlen mit großer Vorsicht betrachtet werden müssen.

Das große Fragezeichen, das mit der Qualität der Daten zu den COVID-19-Infizierten einhergeht, lässt sich schon indirekt an der nach wie vor extrem unterschiedlichen „scheinbaren“ Sterblichkeit in den verschiedenen Ländern beobachten. Während in Deutschland der Quotient aus Toten zu Infizierten bei etwa 0,5% liegt, beträgt der Wert für Italien fast 10%.

Italien: Sterben hier fast 20 mal so viele infizierte Menschen an der Krankheit wie in Deutschland?

Vermutlich nicht; da das Gesundheitssystem in weiten Teilen Italiens kollabiert ist, liegt die tatsächliche Sterblichkeit vielleicht beim fünffachen des Wertes von Deutschland. Der Rest der Differenz lässt sich vermutlich mit einem deutlich weniger umfangreichen und weniger effizienten Testen erklären.

Aber während in Italien die Dynamik der Infektionen leicht rückläufig ist, starten die USA gerade jetzt erst durch.

In den USA explodiert die Lage derzeit geradezu

Die USA haben genau acht Tage gebraucht, um von 1000 Infizierten auf über 40.000 Infizierte zu kommen. In China hat exakt diese Ausweitung zwölf Tage benötigt. Diese vier Tage Unterschied sind das Ergebnis einer großen Differenz in der Wachstumsrate.

USA & Corona: Wie geht es in den kommenden Tagen weiter?

Dazu haben wir einige Szenariorechnungen angestellt, die beide für sich sehr optimistisch sind.

Im ersten Fall unterstellen wir, dass die USA ab morgen auf den Wachstumspfad einschwenken, den China nach dem achten Tag nach Erreichen der 1000er-Marke bei Infizierten beschritten hat. Das ist eine extrem heroische Annahme, denn die USA sind keine Diktatur, in der man schon mal die Türen einer Mietskaserne von außen zuschweißen kann, damit keine Infizierten das Haus verlassen (genau das ist in China in Einzelfällen passiert).

Die USA sind auch kein Land, in dem sich alle Menschen freiwillig über ihr Smartphone tracken lassen.

Und die US-Regierung hat den Ernst der Lage scheinbar noch nicht ganz erkannt, so dass ein derartiger Wachstumspfad tatsächlich komplett ausscheidet.

Dieser Wachstumspfad würde zu knapp 150.000 Infizierten in zwei Wochen führen. Theoretisch denkbar, aber immer noch mit heroischen Annahmen versehen wäre ein Pfad, bei dem die aktuelle Wachstumsrate bei Infektionen so abgeschmolzen wird, dass in etwa zwei Wochen die Wachstumsrate Null Prozent beträgt.

Das führt dann zu etwa 300.000 Infizierten (bei hoher Dunkelziffer!) in zwei Wochen und entspricht etwa der Zahl der jetzt aktuell weltweit offiziell Infizierten. Aber seien wir ehrlich –  auch dieses Szenario ist vermutlich zu optimistisch.

Wir haben uns für die Simulation realistischer Pfade daher auf professionelle Hilfe verlassen und einen Simulator verwendet, der in Fachkreisen als extrem leistungsfähig gilt, da er eine sehr hohe Zahl an krankheitsspezifischen Parametern berücksichtigen kann.[1]

Hier verwendet man die relevanten COVID-19-spezifischen Parameter und wählt als theoretisches Basisszenario eine Situation des „Laufenlassens“ ohne jegliches Eingreifen.

Dann könnten bis Ende des Jahres in den USA ca. 7 Mio. Menschen an dieser Infektion sterben.

Wir sind uns darüber bewusst, dass dies natürlich in keiner Weise ein realistisches Szenario ist.

Kommt jetzt der Lockdown in den USA?

Die US-Regierung hat inzwischen reagiert, und auch viele Bundesstaaten und Städte haben teilweise schon vor vielen Tagen einen partiellen Lockdown verordnet. Im Moment ist schwer einzuschätzen, wie sich dieser Lockdown auf die sog. Basisreproduktionszahl auswirkt. Diese gibt an, wie viele Menschen im Durchschnitt von einer infizierten Person angesteckt werden, wenn noch keine Massenimmunisierung vorliegt. Zudem ist schwer einzuschätzen, ob in den kommenden Tagen (wovon wir ausgehen) auch in den USA noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden, die diese zentrale Kennzahl weiter drücken.

Wir haben zwei Szenarien gerechnet, die wir beide für ähnlich wahrscheinlich halten (Szenario 1 und Szenario 2 im Anhang dieser Publikation). Beide kommen in etwa zu einer Todeszahl von knapp 700.000 Toten in den USA innerhalb der nächsten 200 Tage. Natürlich sind solche Simulationen mit extremen Unsicherheiten und Fehlerbandbreiten versehen, zumal nicht absehbar ist, welche therapeutischen Fortschritte in den kommenden Wochen gemacht werden. Zudem ist nach wie vor nicht ganz klar, wie hoch tatsächlich die Sterblichkeit im Fall eines stark belasteten Gesundheitssystems angesetzt werden muss. Die von uns angesetzten Annahmen befinden sich auf der vorsichtigen Seite, könnten sich aber in den kommenden Monaten dennoch als zu hoch erweisen.

Die Botschaft ist aber auch losgelöst von konkreten Zahlen unmissverständlich: Wenn die USA nicht schleunigst und nachhaltig auf diese Krise reagieren, ist in vielen Städten der USA mit einer massiven Überforderung des Gesundheitssystems zu rechnen – und das bei einer gleichzeitigen Unterausstattung des Sozialsystems.

In gewisser Weise hat die US-Regierung die Wahl zwischen Pest und Cholera

Kippt die Stimmung in der Bevölkerung aufgrund eines kollabierenden Gesundheitssystems, müssen Shutdown-Maßnahmen und staatliche Eingriffe stärker und länger ausfallen als bisher angedacht. Tut man dies, leidet wiederum die US-Wirtschaft, ebenfalls mit unabsehbaren Folgen für Bürger in einem Staat mit einem nur schwach ausgebildeten Sozialsystem. Das ist für die Trump-Administration eine unkomfortable Ausgangslage in einem Wahljahr.

Kein Wunder, dass die Regierung in dieser Zwickmühle Zeichen der Überforderung zeigt.

Und es wäre am Ende eine Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet ein chinesischer Virus das Ende der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dominanz der USA beschleunigt und sich so für China die Chance bietet, die scheinbare (!) Leistungsfähigkeit diktatorischer Systeme zu belegen.

Die Corona-Krise hat das Zeug dazu, eine Zeitenwende zu markieren.

[1] Der Simulator von Gabriel Goh findet sich unter http://gabgoh.github.io/COVID/index.html und eignet sich durchaus zum „Spielen“, wenn man über rudimentäres Fachwissen in diesem Kontext verfügt.

Szenario 1: Schnelle Reduktion der Ansteckungen auf eine Basisreproduktionszahl knapp unter eins

Szenario 2: Etwas verspätete Reduktion der Ansteckungen auf eine Basisreproduktionszahl von 0,83

Szenario 3: Starke Verzögerung der Reduktion der Ansteckungen, dann extrem massive Maßnahmen mit Basisreproduktionszahl von 0,66

In Szenario 3 sind wir etwas pessimistischer und unterstellen, dass die USA noch etwa 15 Tage den Ernst der Lage nicht hinreichend erkennen und dann aber besonders scharf reagieren. Hier stiege die Anzahl der Todesfälle schon auf über eine Million.

Szenario 4: Worst-case: Keine staatlichen Eingriffe als theoretisches Basisszenario

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Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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