Corona-Krise: Wann geht es zurück zur Normalität?

Wie könnten die nächsten Monate aussehen? Inzwischen zeichnet sich ab, dass die meisten großen westlichen Volkswirtschaften Ende April oder Anfang Mai versuchen werden, graduell vom Krisenmodus zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Normalität zurückzukehren.  Anhand von Simulationen zeigen wir auf, dass dieser Weg kein leichter sein wird, sondern steinig und schwer – um ein bekanntes Lied zu zitieren.

Und zwar für Einzelpersonen, den Staat und die Wirtschaft. 

Wie verläuft eigentlich eine Pandemie?

Wenn man sich als Volkswirt substantiell mit den Folgen der aktuellen Krise auseinandersetzten möchte kommt man nicht daran vorbei, sich auch mit epidemiologischen Sachverhalten auseinanderzusetzen. Ein Verständnis des Verlaufes einer solchen Pandemie ist unabdingbar, um in volkswirtschaftlichen Szenarien rechnen zu können. Schon an dieser Stelle beginnt es allerdings spannend zu werden, da die gesamte wissenschaftliche Welt mit ihrem Erkenntnisstand erst am Anfang eines Prozesses steht und sämtliche Aussagen mit großen Fehlerbandbreiten versehen sind.

Aber ist die Welt nicht ein bisschen „überdreht“? Die Krise ist doch nicht schlimmer als eine heftige Grippewelle?

Und es sind doch hauptsächlich Menschen gestorben, die sonst auch etwas später gestorben wären.

Wir teilen ausdrücklich nicht diese Meinung.

Für das bessere Verständnis der Einzigartigkeit dieser Krise muss man sich darüber klar werden, dass bei einer Grippewelle sehr viele alte Menschen mit wenigen Symptomen sterben, dies oftmals sogar im Schlaf.

Bei COVID-19 handelt es sich um eine Krankheit mit zuweilen heftigsten Symptomen, die intensivmedizinisch im Krankenhaus behandelt werden müssen und auch teilweise behandelt werden können.

Dies wiederum führt bei der sehr hohen Infektiösität des Virus zu einer extremen Überbelastung des Gesundheitssystems. Das wiederum führt zu sehr vielen Toten bei Krankheiten, die in einem kollabierenden Gesundheitssystem ebenfalls nicht mehr adäquat behandelt werden können.

Nicht zu handeln ist für Regierungen in dieser Situation gar keine Option. Gefragt ist allerdings intelligente Vorgehensweise, um die Kosten beherrschbar zu halten, denn einen monatelangen „Winterschlaf“ hält die Wirtschaft nicht aus.

Aber war es richtig, sich international für einen Shutdown zu entscheiden?

Ja, das war vollkommen richtig.

Warum das so ist, zeigt eine Simulation, die ein Szenario für Deutschland beschreibt, in dem der Staat nicht eingegriffen hätte. Dazu haben wir folgende Annahmen als medizinische Rahmendaten unterstellt.

Medizinische Rahmendaten COVID-19

Basisreproduktionszahl2,4
Dauer, bis 2,4 Personen (Basisreproduktionszahl) angesteckt werden5,2
Dauer Krankenhausaufenthalt16 Tage
Prozentsatz der im Krankenhaus intensivmedizinisch betreuten  Infizierten3%
Zeitraum, in dem Patienten infektiös sind2,9 Tage
Zeit von Ansteckung zum Tod21,3 Tage
Dauer Krankenhausaufenthalt milde Verläufe11,1 Tage
Zeit bis zur Einlieferung in das Krankenhaus nach Diagnose5 Tage

Nutzt man nun diese Rahmendaten, um anhand eines frei verfügbaren Pandemiesimulators für Deutschland eine Berechnung darüber anzustellen, wie viele Personen im Zeitablauf in ein Krankenhaus eingeliefert und intensivmedizinisch versorgt werden müssen, ergibt sich ein erschreckendes Bild.[1]

Bei den oben unterstellten Rahmendaten, ergäbe sich für Deutschland ein hypothetisches Horrorszenario.

Deutschland verfügt derzeit in etwa über 35.000 Betten mit intensivmedizinischer Betreuung und ist hier weltweit im Vergleich zur Bevölkerungsgröße mehr oder weniger führend. Trotzdem würde das System nach kurzer Zeit kollabieren, da sehr schnell hunderttausende (!!) Betten benötigt würden. Völlig zu Recht verwies die Bundeskanzlerin darauf, dass die Lage ernst sei und jeder sie auch ernst nehmen müsse.

Szenario 1: Zahl der intensivmedizinisch zu betreuenden Infizierten in dem Basisszenario ohne Eingriffe

Angesichts dieses Szenarios war es richtig, dass die Bundesländer und der Bund ab Mitte März zu einem sukzessiven Shutdown übergegangen sind. Geht man davon aus, dass dieser Shutdown zu einer erheblichen Reduktion der Basisreproduktionszahl auf etwa 0,7 führt[2], ergibt sich eine in der Spitze benötigte Anzahl von Intensivbetten, die bei 8500 liegt – ein machbarer Wert für Deutschland.

Wo ist der Haken bei diesem Szenario?

In dieser Simulation wird unterstellt, dass der aktuelle Ausnahmezustand insgesamt 150 Tage anhält. Erst dann sinkt die Zahl der Intensivplätze auf eine Zahl nahe null. Das ist selbstredend ausgeschlossen.

Auch wenn US-Präsident Trump in der aktuellen Krise komplett überfordert wirkt, so hat es natürlich Recht wenn er sagt, dass die Lösung nicht schlimmer als das Problem werden darf.

Ein Shutdown von fünf Monaten würde keine Volkswirtschaft der Welt aushalten – der Schaden wäre so immens, dass tatsächlich auch mit vielen Toten aufgrund der kollabierenden Wirtschaftssysteme zu rechnen wäre.

Szenario 2: Zahl der intensivmedizinisch zu betreuenden Infizierten bei dauerhaftem Shutdown nach Tag 50

Die Kunst muss also darin bestehen, zur Normalität zurückzukehren, ohne die Kennziffer der Ansteckungsintensität – die Basisreproduktionszahl – in die Höhe schnellen zu lassen.

Das gleicht in gewisser Weise einer Operation am offenen Herzen.

Denn kein Mensch weiß, welche Aufhebung welcher Regel welchen Effekt auf den Anstieg der Basisreproduktionszahl hat. Wir wollen aber in den folgenden Simulationen berechnen, welche Pfade grundsätzlich möglich wären, ohne einen Zusammenbruch des deutschen Gesundheitssystems zu riskieren.

Die gute Nachricht vorweg: Es gibt diese Pfade, aber sie gehen mit Kosten und Einschränkungen für ein weiteres Jahr einher.

Szenario 3: Ausprobieren, dann „Einfangen“ ab Tag 125 (gezählt ab dem Ende des ersten Shutdowns)

Falls im Laufe des Jahres Kapazitäten bereitgestellt werden, mit denen in der Spitze 30.000 COVID-19-Patienten intensivmedizinisch versorgt werden könnten, dann bestände die Möglichkeit, die Basisreproduktionszahl für 125 Tage auf ca. 1,3 ansteigen zu lassen. Bevor man dann ggf. noch einmal nachsteuert und mit etwas verschärften Maßnahmen den Wert auf 1,0 drückt. Das klingt einfach, ist es aber nicht.

Denn welche Maßnahmen müssen getroffen werden, um den Wert von 1,3 zu erreichen?

Um ehrlich zu sein: Man wird es herausfinden müssen. Sollten die Maßnahmen im Rahmen einer Normalisierung ab Mai zu „lasch“ ausfallen und die Basisreproduktionszahl wieder auf ca. 1,5 steigen, müsste der Staat sogar schon nach 68 Tagen erneut härtere Maßnahmen ergreifen (Szenario 4).

Das spricht im Übrigen dafür, nicht zu schnell viele Einschränkungen aufzuheben, sondern sukzessive vorzugehen und jeweils den resultierenden Effekt abzuschätzen.

Denn nichts wäre für die Wirtschaft schlimmer als ein erneuter harter Shutdown im Sommer oder Herbst.

Szenario 4: Ausprobieren mit etwas mehr „Mut“ zum Fehler, dann erneutes „Einfangen“ ab Tag 68

Mit folgenden Bereichen staatlicher Eingriffe kann der Staat „arbeiten“, um die Ansteckungsrate auf das gewünschte Niveau zu bringen:

• Zulassung von Massenveranstaltungen
• Maskenpflicht in der Öffentlichkeit
• Schulschließungen
• Verwendung von Smartphone-Apps
• Abstandsregeln
• Zugelassene Personenzahl bei Treffen
• Reisebeschränkungen
• Massive Testprogramme
• Datenerfassung repräsentativer Kontrollgruppen
• Stringente Abschottung von Risikogruppen
• Desinfektion öffentlicher Orte

Welche Maßnahmen weisen ein besonders attraktives Nutzen-Kosten-Verhältnis auf?

Vermutlich wäre es beispielsweise sinnvoll, Schulen wieder zu öffnen, rigide Abstandsregeln aber gelten zu lassen und große Veranstaltungen nach wie vor zu verbieten. Zudem scheinen Corona-Apps ein hohes Potenzial zu haben, Kontaktpersonen von Infizierten schnell aufzuspüren und zu isolieren.

Generell wandelt der Staat hier aber auf einem schmalen Grad, und das auch noch im Nebel der Unwissenheit.

Deutschland ist dabei noch in einer vergleichsweise komfortablen Situation.

Das Staatswesen in Deutschland ist trotz aller Kritik hochfunktional, so dass solche Entscheidungen auch dezentral mit hoher Qualität und Geschwindigkeit getroffen werden können. Deutschland verfügt zudem über erhebliche Kapazitäten und Fähig-keiten in der intensivmedizinischen Betreuung.

Davon können andere Länder nur träumen.

Das gilt nicht nur für die (steigende) Anzahl verfügbarer Beatmungsgeräte, sondern auch für das dazu notwendige hochqualifizierte Personal. Das deutsche Gesundheitssystem lässt hier also eine höhere Fehlertoleranz in der Einschätzung staatlicher Maßnahmen zu als dies beispielsweise in den USA der Fall ist.

Länder mit eher dysfunktionalem Staatswesen und schlecht ausgestatteten Gesundheitssystemen sind besonders gefährdet.

Wir werden daher in den kommenden Monaten insbesondere auf der Südhalbkugel viele dramatische Zuspitzungen dieser Krise erleben. Schon jetzt entwickelt sich beispielsweise die Türkei zu einem neuen Krisenherd; Indien läuft ebenfalls Gefahr, zu einem Epizentrum der Pandemie zu werden. Selbst eine deutlich bessere demographische Situation wird diese Länder nicht vor massivsten Problemen bewahren.

Wie man es auch dreht und wendet: Der Spuk, den wir gerade erleben, ist nicht in vier oder acht Wochen vorbei.

Der Weg zurück in die Normalität birgt Risiken – nach wie vor kann sehr viel schieflaufen. Durch die in den kommenden Quartalen entstehenden Kosten der „Pandemiekontrolle“ entstehen Lasten, die aktuell nur schwer einzuschätzen sind.

Die heute erneut alle Befürchtungen übertreffende dramatisch gestiegene Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung in den USA liefert nur einen zarten ersten Vorgeschmack auf das, was noch kommt.

[1] Wir verwenden hier den Simulator von Gabriel Goh: http://gabgoh.github.io/COVID/index.html

[2] Hier wird unterstellt, dass eine infizierte Person im Durchschnitt noch 0,7 weitere Personen ansteckt. Bei Werten unter eins bricht eine Pandemie automatisch zusammen.

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Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

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