Ausblick 2023 (V): Viele Fragezeichen und eine ganze Menge Hoffnung

Was war 2022 doch für ein Jahr. Russland startete in Februar den ersten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit 1939. Die Energieversorgung des Kontinentes geriet in eine massive Schieflage und befindet sich immer noch in einer prekären Situation. In der Ostsee wurden von einer unbekannten Macht Gaspipelines gesprengt. Bei der Deutschen Bahn wurden mit geheimdienstlichen Fähigkeiten entscheidende Glasfaserleitungen durchtrennt. Lieferkettenprobleme verloren etwas an Schrecken, wobei das nicht für alle Gütergruppen galt.

Für einiges Entsetzen sorgte die Anregung des Präsidenten der Bundesärztekammer, nachbarschaftliche Flohmärkte für Medikamente einzurichten, um gemeinsam die Mangellage bei einigen Medikamenten zu überbrücken.

Wann gab es so etwas zuletzt in Deutschland?

Gleichzeitig stieg die Inflation im Jahr 2022 in Deutschland und fast allen anderen Industriestaaten innerhalb kurzer Zeit so stark an wie selten zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Nahezu jede wichtige Notenbank, jedes Wirtschaftsforschungsinstitut und auch nahezu jede Analyseabteilung einer Bank (eingeschlossen unserer eigenen Analyse) unterschätzte dabei für viele Monate in Folge den kontinuierlichen Anstieg der Preise. Im Ergebnis waren Zentralbanken genötigt, die Leitzinsen massiv anzuheben, um die ausufernden Inflationsraten wieder in den Griff zu bekommen. Als Reaktion auf die unerwartet starken Leitzinserhöhungen stiegen wiederum die Renditen von Staatsanleihen und Unternehmensanleihen an, was bei den Papieren zu Kursrückgängen in historischen Ausmaßen führte.

Da überrascht es fast ein wenig, dass Aktien im Jahr 2022 nicht pauschal massiv an Wert verloren haben, sondern insgesamt eine sehr heterogene Wertentwicklung aufwiesen.

Grundsätzlich galt die Regel, dass die Wertentwicklung bei Unternehmen aus dem Technologiesektor und im Bereich der Small- und Midcaps sehr unterdurchschnittlich verlief, während Large-Caps (oftmals vor allem aus Europa) mit einer eher value-lastigen Zuordnung noch mit einem blauen Auge davongekommen sind. Viele Aktien, die man aus Gründen der Nachhaltigkeit selbst mit der Kneifzange nicht anfassen würde, haben 2022 sogar erstaunlich gut abgeschnitten; damit wurde ein Trend der Vorjahre gebrochen, in dem vor allem Aktien mit besonders attraktiven ESG-Eigenschaften eine erfreuliche Wertentwicklung aufwiesen.

Damit kommen wir jetzt zu der eine-Millionen-Dollar-Frage: Was bringt das nächste Jahr?

Bei der Beantwortung dieser Frage ist zunächst eine ganze Menge Demut angebracht. Nicht selten gibt es schon am Anfang eines Jahres Entwicklungen und Ereignisse, von denen man einige Wochen zuvor noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Dann können selbst die plausibelsten und die scheinbar präzisesten Szenarien innerhalb kürzester Zeit zur Makulatur werden. Daher sind Jahresausblicke immer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, und es sollte keiner auf die Idee kommen, seine Anlagepolitik ausschließlich an Jahresausblicken zu orientieren und sich dann für die jeweils nächsten zwölf Monate komplett von den Märkten abzuwenden. Trotzdem ist es grundsätzlich richtig, Jahresprognosen aufzustellen und in Szenarien zu denken. Denn diese Übung zwingt Investoren, sich möglicher Risiken und Chancen bewusst zu werden und dementsprechend auch dann schneller handeln zu können, wenn sich der Wind unerwartet dreht. Fangen wir also an.

Betrachten wir zuerst die Zinsen

Der Anker für die Bewertung aller möglichen Vermögensgegenstände sind Zinsen, so dass es bei grundsätzlichen Überlegungen zu Kapitalmärkten immer Sinn ergibt, zunächst ein Zinsszenario aufzustellen. Im kommenden Jahr werden sowohl in den USA als auch in Europa die Leitzinsen weiter angehoben werden. Dieser Sachverhalt ist für sich genommen auch schon längst eingepreist. Wenn sich die Leitzinserwartungen nicht mehr groß ändern, werden sich dementsprechend auch die Renditen von Anleihen nicht mehr besonders stark bewegen.

Die entscheidende Frage ist daher die, inwieweit Märkte mit ihrer Einschätzung bezüglich des Zinspfades falsch liegen und ggf. ihre Erwartungen erneut anpassen müssen.

So war schon das ganze Jahr 2022 davon geprägt, dass die Markterwartungen bezüglich der Leitzinsen kontinuierlich nach oben angepasst werden mussten. Dieser Prozess ist selbst jetzt noch nicht zu seinem Ende gekommen. Während wir diese Zeilen schreiben, bewegen sich die Renditen von Bundesanleihen mit zehn Jahren Restlaufzeit schon wieder in der Nähe ihrer Jahreshöchststände, eben weil auch die Leitzinserwartungen weiter angestiegen sind. Wir gehen davon aus, dass sich dieser Trend auch in den kommenden Wochen und Monaten fortsetzen dürfte.

Damit wären temporäre Renditeniveaus von 2,5% und mehr für zehnjährige Bundesanleihen genauso realistisch wie Renditen von 4,5% für zehnjährige US-Treasuries.

Die höheren Renditen bei Staatsanleihen führen selbstredend auch zu höheren Renditen bei Unternehmensanleihen, wobei die drohende konjunkturelle Eintrübung weitere zusätzliche Risikoaufschläge gerade bei weniger bonitätsstarken Anleihen mit sich bringen. Damit ist jetzt sicherlich noch nicht der Zeitpunkt gekommen, neue Positionen bei Unternehmensanleihen mit schlechterer Bonität und längerer Restlaufzeit aufzubauen, auch wenn die jetzigen Renditeniveaus schon sehr verlockend erscheinen.

Die schwächelnde Konjunktur ist kein gutes Omen für den Aktienmarkt

Die höheren Renditen und Zinsen haben wiederum einen Einfluss auf die Bewertung an den Aktienmärkten. Je höher Renditen und Zinsen steigen, umso geringer fällt der Barwert der zukünftigen Gewinne aus. Da ist es logisch zu vermuten, dass das aktuelle Zinsumfeld für den Aktienmarkt eher Gegenwind mit sich bringt. Auch die schwächelnde Konjunktur ist kein gutes Omen für den Aktienmarkt, denn ein Wachstum unterhalb des Trendpfades hat auch negative Effekte auf die Gewinne, die aus unserer Sicht gerade für 2023 noch zu optimistisch eingeschätzt werden. Auf der anderen Seite sind Gewinne immer eine nominale Größe.

Wenn Preise steigen, steigen i.d.R. auch die Gewinne; zumindest dann, wenn die Margen nicht komplett kollabieren, und das erwartet keiner für 2023.

Nun ließe sich argumentieren, dass im kommenden Jahr die Inflationsrate falle, so dass sich der Effekt 2023 ins Negative umkehren könnte. Das ist aber nicht der Fall.

Auch bei fallender Inflationsrate steigen die Preise, der Anstieg fällt nur weniger stark aus.

Grundsätzlich ist aber bei den zu erwartenden Inflationsraten weiter mit so starken Preisanstiegen über das Jahr hinweg zu rechnen, dass dies für sich genommen die Gewinne zumindest stabilisiert und besonders negative Gewinnrevisionen unwahrscheinlich macht. Zudem darf ein Effekt nicht unterschätzt werden:

Märkte haben die erstaunliche Fähigkeit, durch Krisen „hindurchzuschauen“ und den nächsten Aufschwung zu antizipieren, lange bevor sich der Aufschwung tatsächlich einstellt.

Wir wollen damit in keiner Weise sagen, dass damit die nächste Rallye am Aktienmarkt unmittelbar bevorsteht – es wäre jedoch töricht zu vermuten, dass über das ganze Jahr 2023 hinweg Trübsal geblasen wird, nur weil die aktuellen Konjunkturdaten schlecht und die Zinsen hoch sind.

Ein plausibles Szenario: neue Höhenflüge in der zweiten Jahreshälfte

Plausibler wäre ein Szenario, in dem die bestehenden Unsicherheiten in der ersten Jahreshälfte durch eine hohe Volatilität zum Ausdruck kommen, bevor dann in der zweiten Jahreshälfte der Blick auf hoffentlich bessere Zeiten den Markt zu neuen Höhenflügen animiert.

Unser offizielles Jahresendziel 2023 für den DAX liegt daher beispielsweise bei 15.600 Punkten – etwa 11 Prozent über den derzeitigen Indexständen.

Die hohe Divergenz in der Performance zwischen Investmentstilen dürfte aber zunächst bestehen bleiben.

Nun steht aber erst einmal Weihnachten vor der Tür – eine Zeit, in der man Kapitalmarktthemen mit gutem Gewissen ruhen lassen kann, um den Blick auf andere, eigentlich wichtigere Themen zu richten. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein friedvolles Weihnachtsfest und einen guten Start in das neue Jahr! Vor allem aber wünschen wir Ihnen ein gesundes Jahr – und uns allen wünschen wir eine Welt, in der hoffentlich endlich wieder einmal die positiven Nachrichten dominieren. Bleiben Sie uns gewogen!

Ausblick 2023 (IV) Markttechnik: Anhaltende Baisse oder doch nur ein „reinigendes Gewitter"?

Wie wird das Jahr 2023 aus Sicht der Markttechnik? Das sagen unsere Experten…

weiterlesen
Christian Jasperneite

Autor: Dr. Christian Jasperneite

Dr. Christian Jasperneite studierte an der Universität Passau VWL und promovierte anschließend an der Universität Passau am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University begann er im Jahr 2000 als Analyst im Makro-Research von M.M.Warburg & CO. Seit Anfang 2009 ist Dr. Jasperneite Chief Investment Officer bei M.M.Warburg & CO und verantwortet dort u.a. Fragen der strategischen und taktischen Allokation sowie der Portfoliokonstruktion und der Produktentwicklung.

Newsletter

Erfahren Sie von uns die wichtigsten Nachrichten über das Thema Geldanlage.
✓ jede Woche neu ✓ immer aktuell ✓ ohne Werbung ✓ jederzeit abbestellbar

Mit Warburg Navigator die passende Geldanlage finden

Investieren Sie Ihr Vermögen mit den Experten von M.M.Warburg & CO. Modern und unkompliziert.

Empfohlene Artikel